Koffer und Köpfe

Koffer und Köpfe

1. Oktober 2022 Roman 0

Begleite vier Schwestern durch die Evakuierung Londons 1940 nach dem Blitz-Angriff der Nazis…

Der Zug hielt. Hunderte von Menschen, die sich auf dem Bahnhof drängten, strömten hinein. Hunderte Kinder. Viele weinten, während sie sich von ihren Müttern, Tanten oder Schwestern verabschiedeten. Nirgendwo sah Jaqueline einen Mann, nur die Soldaten, die am Rande des Bahnhofs auf und ab marschierten und die Ansammlung bewachten.
Und was sie noch sah, waren die vielen sorgenvollen Gesichter und Frauen, die ihre Tränen zu unterdrücken versuchten, um ihren Kindern den Abschied zu erleichtern.
Mom umarmte sie innig und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Jacky, hör auf deine ältere Schwester.“, murmelte sie dem braunhaarigen Mädchen zu. Jaqueline nickte und biss sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
Mom nannte sie nur Jacky, wenn sie versuchte Emotionen zu unterbinden und unbeschwert mit ihr zu reden.

Mom umarmte Jaquelines ältere Schwester Anne und dann die beiden jüngeren: Tracy und Margarete. Mit ihren Koffern zwängten die vier Schwestern sich durch die Menschenmasse, zeigten dem Kontrolleur ihre Fahrscheine und stiegen in den Zug. Eilig suchten sie sich in der Mitte des Abteils einen Fensterplatz, von wo sie hinausschauen konnte.
Jaqueline setzte sich hin und starrte aus dem Fenster, wo sie versuchte zwischen all den Köpfen Moms Gesicht auszumachen, doch sie sah sie nicht. Dann fuhr der Zug los. Erst quietschten die Räder, ein Tuten ertönte, dazu hörte man das Zischen der Dampflock, dann kam das Rattern hinzu. Langsam, aber stetig fuhr der Zug. Zunächst quälte er sich aus dem Bahnsteig, während Frauen dicht an dicht gedrängt, winkten, dann ratterte er immer schneller werdend über das Gleis und der Bahnhof raste an den Kindern vorbei.

Bald hatten die vier Schwestern London hinter sich gelassen und fuhren an Dörfern, Wiesen und Feldern vorbei. Dann und wann hielt der Zug an einem heruntergekommenen Bahnsteig und Jaqueline sehnte sich danach ganz weit weg zu fahren. Sie wollte weg vom Krieg, weg von den Bomben, den Nazis und sicher vor alledem sein.
Während sie den Kindern zusah, die ausstiegen und von Familienangehörigen oder Pflegeeltern in Empfang genommen wurden, dachte sie an ihre Großeltern. Sie spürte, dass sie sich glücklich schätzen konnte, zu wissen, bei wem sie wohnen und sicher aufgehoben sein würde. Sie wusste, dass sie und ihre Schwestern nach Lamellion zu ihren Großeltern fahren würden, die dort ein großes, geräumiges Anwesen hatten, und dort, ungestört vom Krieg und den Unruhen des Landes, ihren Lebensabend verbrachten. Eigentlich wollte sich Jaqueline darüber freuen, denn neben dem riesigen Anwesen, das eine Bibliothek, ein Musikzimmer, einen Wintergarten, sowieso überall Bücher, Instrumente, Antiquitäten, Ritterrüstungen, vielerlei Möbel besaß und ganz und gar nicht ärmlich ausgestattet war, besaßen ihre Großeltern sogar Pferde und einen Reitstall mit einigen Koppeln. Dazu dienten ihnen 15 Diener, 2 Butler, 10 Pferdeknechte, 4 Zimmermädchen und 9 Dienstmädchen.
Jaqueline wusste, dass es ihr in den nächsten Wochen, je nachdem, wie lange sie bleiben würde, im Vergleich zu den Soldaten und anderen Kindern, unerhört gut gehen würde.
Dennoch wurde sie immer wieder traurig, wenn sie an Moms trauriges Gesicht dachte, über das die Tränen liefen.
Im verzweifelten Kampf, das zu vergessen, schaute sie hinaus auf die vorbeiziehenden Felder, Wiesen, Wälder und Moore und blickte den Wolken nach, die weiß und bauschig waren wie eh und je. Auch die Sonne schien strahlend, als wüsste sie nichts von Krieg.
Einige Wolken hatten für Jaqueline Ähnlichkeit mit Koffern.
So wie meiner., dachte sie und blickte auf den Koffer, der über den Köpfen von Margrete und Anne verstaut war. Er war braun, alt und vergilbt, aber Jacky liebte ihn, weil sie ihn auch früher mit auf die Reisen zu ihren Großeltern genommen hatte. Ihren Stoffbären Hamilton hatte sie immer neben ihren Kleidern verstaut und ein kleines Kissen darübergelegt.

Immer öfter hielt der Zug, da sie sich bereits nach einer halben Stunde auf dem Land befanden und die Dörfer, an denen sie vorbeizogen, waren entweder groß und besaßen einen richtigen Bahnhof, oder sie waren klein und hatten nur einen kleinen armseligen, verdreckten Bahnsteig mit Holzgeländer. Das Haus ihrer Großeltern lag abseits vom Dorf, mit der Kutsche etwa eine halbe Stunde.
Ihre Großeltern besaßen zwei Kutschen. Eine ohne Verdeck, für den Sommer, und eine mit Dach, für den Winter.
Diesmal würde ihre Großmutter, mit der ohne Verdeck kommen, das wusste Jacky. Die Räume im Haus waren alle sehr groß und dennoch gemütlich ausgestattet, mit Teppichen belegt und Kerzen zum Anzünden standen auf den Regalen und Fensterbrettern.
Generell gab es in jedem Zimmer große, hohe Fenster, sodass die Räume immer hell und freundlich wirkten.
Jaqueline dachte an die vier Zimmermädchen Charlotte, Florence, Daisy und Betty. Von allen vieren hatte die Schwestern Betty am liebsten.
Betty war eine braunhaarige, ruhige Angestellte mit wachen Augen und einer zarten Stimme. Sie hatte den Mädchen vor dem Einschlafen vorgelesen, als sie noch kleiner gewesen waren und hatte streng darauf geachtet, dass ihre Zimmer durchgängig sauber und ordentlich blieben.

Doch die liebe Betty war der traurigen Jaqueline nur ein kleiner Trost, denn so schön es bei ihren Großeltern auch war, ihre Großmutter war eine strenge konservative Frau mit einer Schwäche für Tee und Kirchenmessen. So war es bereits Tradition, dass ihre Enkelkinder allerlei Bibelverse auswendig lernen und vor dem Abendessen aufsagen sollten. Es war ein grässliches Abplagen und selbst Betty, die hinter der Großmutter stand und ihnen mit Gestik und Mimik deuten wollte, konnte nicht viel helfen.
Da die Mädchen, außer der bockigen Tracy und der trotzigen Jaqueline, recht fleißig lernten, kam es nicht selten vor, dass die zweite und dritte Enkelin den Rest des Abends ohne Mahl, allein, jede in ihrem Zimmer verbringen musste.
Jaqueline erinnerte sich noch gut daran, wie Betty in ihrer Gutherzigkeit eines Abends, nachdem Tracy und sie wieder einmal ohne Essen zu Bett gebracht worden waren, nach ihnen geschickt und ihnen heimlich in der Küche die Reste gegeben hatte, selbstverständlich nachdem die Herrschaft zu Bett gegangen war.
Jaqueline hatte anschließend von Charlotte gehört, dass für gewöhnlich die Angestellten die Essensreste der Herrschaft oder ein weitaus schlechteres Mahl bekamen.
Und dass Betty Jaqueline ihr wohlverdientes Mahl gegeben hatte, statt es selbst zu essen, hatte Jaqueline dem Dienstmädchen nie vergessen.

Jaqueline tat einen tiefen Seufzer und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg.
Und nun würden sie Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate bei ihren Großeltern auf dem Land verbringen, müssten täglich Bibelverse auswendig lernen und sich trotz des Krieges mit Schulaufgaben, Gartenarbeit und Dienstmädchen-Aufgaben abquälen, denn das hatte ihre Großmutter so angeordnet.
Schon seit sie klein war, war es so gewesen.
Kamen sie zu ihr, waren keine ruhigen Ferientage angebracht.
Mit den Dienstboten aufstehen und um deren Uhrzeit ins Bett gehen, den Dienstboten beim Putzen, Spülen, Zimmer aufräumen und Bücher abstauben und ordnen helfen – das war es, was die alte Frau von ihnen verlangte.
„Müßiggang ist aller Laster Anfang.“, war ihr tägliches Sprichwort und sie ließ nicht zu, dass ihre Enkel je unnütz herumsaßen oder nur zum Vergnügen Bücher lasen. Wenn man las, las man Lexika, Lehrbücher oder Wälzer vollgestopft mit Allgemeinwissen. Wenn man ausritt, dann nur für eine halbe Stunde und nicht ohne Sprung- oder Reitübungen.
Wenn man fechten wollte, war es verboten, da die teuren Degen sonst zu Bruch gehen konnten und zudem waren sie Mädchen.
Was ging sie das Fechten an?
Das waren die Ansichten von Jaquelines Großmutter und die vier Schwestern hassten diese Ansichten aus ganzem Herzen.
Ihr Herz sank, als sie aus dem Fenster schaute, wo Schafherden, Kühe und Vögel an ihr vorüberzogen und sie daran dachte, dass sie geradewegs zu ihrer Großmutter fuhr.
Tracy, die neben ihr saß, war eingeschlafen und lehnte an Margarete, die ihre Nase in einem Roman versteckt hatte.
Anne lehnte ihr gegenüber am Fenster und schaute zurück auf die Landschaft, die bereits an Jaqueline vorbeigezogen war. Margarete klappte ihr Buch mit einem unzufriedenen Seufzer zusammen und schüttelte den Kopf, während sie murmelte: „So ein Schundroman.“
Ihre ältere Schwester hob die Augenbrauen. „Was? Schon wieder etwas, was du zu bemängeln hast?“, fragte Jaqueline und seufzte innerlich.
Ihre kleine Schwester war eine Leseratte und las alles, was sie in die Finger bekam, sogar jedes Sachbuch, und sie achtete dabei streng auf Wortwahl, Grammatik und Stil.
Dabei kam es häufig vor, dass sie sich vergriff und anschließend zwei Tage über den „Schundroman“ lästerte, den sie gelesen hatte, wobei sie nicht ausließ sich über jeden noch so kleinen misslungenen Satz oder den Stil aufzuregen.
Und auch diesmal wartete sie nicht auf die Zustimmung ihrer Schwester oder fragte, ob sie ihre Kritik hören wollte, nein, sie legte einfach los.
„Furchtbar! Einfach furchtbar ist das! Der Schriftstil ist grottenschlecht. Man fragt sich, ob das ein dreijähriger geschrieben hat. Die Handlung ist ebenso wenig nachvollziehbar wie der Hauptcharakter, der im ersten Moment dies behauptet und im nächsten das Entgegengesetzte tut. Obendrein hat der Autor leider Gefallen daran gefunden, dass alle Personen sich zu Anfang vorstellen und ihren Charakter beschreiben, dann aber ganz anders reagieren…“
„Halt mal die Luft an.“, unterbrach Jaqueline ihre Schwester scharf und fauchte dann: „Wir fliehen gerade vor den Nazis, reisen zu unserer schrecklichen Großmutter und du hast im Ernst nichts Besseres zu tun, als dich über ein dummes Buch aufzuregen?“
„Immerhin rege ich mich nicht über unseren langweiligen Besuch bei denen auf. Und mit langweilig meine ich lang-weilig, dumme Gans.“, schleuderte Margarete zurück.
„Ach, wäre es dir wohl lieber wir wären im zerbombten London geblieben und von den Nazis getötet worden?“, fuhr Jaqueline sie an.
„Und wenn schon! Dann würde es uns nicht langweilig werden!“, erwiderte Margarete.
„Langweilige bedeutet Sicherheit!“, ging Anne streng, aber ruhig dazwischen und fuhr schnell fort: „Und jetzt seid still, sonst wacht Tracy noch auf. Ihr solltet euch nicht streiten. Mama würde das nicht wollen.“
„Und Dad auch nicht.“, murmelte Jaqueline und schaute wieder zum Fenster hinaus.
„Wenn Dad hier wäre, hätte er uns nicht weggeschickt.“, grummelte Margarete. „Wenn Dad hier wäre, würden wir gar nicht erst hier sitzen, sondern in unserem Zuhause mit ihm und der Krieg wäre vorbei!“, zischte Jaqueline zurück. Anne legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit den Augen auf Tracy, die sich unruhig bewegte.
„Ihr beide solltet lieber still und dankbar sein, dass wir zu unseren reichen Großeltern aufs stille Land geschickt werden, statt bei einem fremden Ehepaar oder gar in einem Waisenhaus untergebracht zu werden.“, mahnte die älteste Schwester ihre beiden jüngeren Schwestern. Daraufhin schwiegen sie bedrückt.

Der Zug hielt an einem ländlich-verschlafenen Bahnsteig, der leer in der Gegend stand, umgeben von Wiesen und Feldern.
Einzig in dem alten, dreckigen Schaffnerhäuschen hockte ein schlechtgelaunt dreinblickender, alter Mann mit einer schwarzen Mütze, die ihm wie ein nasser Lappen auf dem Kopf lag.
Der Mann schenkte den Kindern keinen Blick, als sie aus dem Zug ausstiegen und dieser sich wieder schnaufend in Bewegung setzte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Die Sonne hatte sich verzogen, schwere graue Wolken hingen tief über den Wiesen und ein staubiger Sandweg führte vom Bahnhof weg über die umliegenden Wiesen. Mit ihren Karten um den Hals und ihren Koffern in der Hand standen die vier Mädchen auf dem verlassenen Bahnsteig und waren ziemlich ratlos, da niemand da war, um sie abzuholen.
Jaqueline warf einem Blick zu dem mürrischen Bahnhofsvorsteher und beneidete ihn sogar. Der Mann wirkte zwar grummelig und schlechtgelaunt, aber er schien sich um keine Nazis oder den Krieg Sorgen machen zu müssen.
Sein einziges Problem war die Langeweile und die Stunden, die er hier auf dem verschlafenen Bahnhof absitzen müsste.
Er würde nicht um sein Leben zu fürchten brauchen und wusste vielleicht sogar gar nichts vom Krieg, der Glückliche.
Tracy, die neben Jaqueline stand, blinzelte verschlafen in die Gegend, zupfte dann an dem Ärmel ihrer großen Schwester und fragte: „Wann kommt Großmutter denn? Ich habe Hunger.“ Lustlos blickte das kleine Mädchen über die Wiesen, gar nicht einsehend, warum sie überhaupt hierher hatte kommen müssen.
„Gedulde dich noch ein bisschen, Tracy.“, versuchte Anne sie zu beruhigen.
„Großmutter müsste jeden Moment kommen.“, fügte Jacky hinzu.
Margarete lachte sarkastisch und meinte trocken: „Die ist doch so alt, dass sie es gar nicht auf ‘nem Kutschbock aushält. Wenn schon, dann holt uns der Kutscher Blythe ab. Und eventuell eines der Dienstmädchen.“
Jacky verbiss sich eine scharfzüngige Zurechtweisung und nahm die Hand ihrer kleinen Schwester, die sich müde umsah.
So warteten sie. Und warteten. Und warteten.
Die dunklen Wolken zogen über sie hinweg und ließen, sobald sie in die Ferne gezogen waren, ihre Regenlast ab.
Dunkle Wolken wichen dem blauen Himmel, ab und zu lugte die Sonne zwischen der Wolkenfront hervor und verschwand wieder.
Und die Mädchen warteten weiter.

Gerade als Margarete ihre Karte in die Hand nahm, prüfend anblickte und mutmaßte, dass die vielleicht falsch beschriftet und sie allesamt auf einem falschen Bahnhof gelandet waren, war das Klappern von Hufen zu hören und im nächsten Augenblick kam eine Kutsche mit Verdeck und großen Fenstern angefahren, auf dessen Kutschbock ein junger Mann in enger Hose, mit Lederstiefeln und einem breitkrempigen Hut bekleidet. Seine Hände, die in Lederhandschuhen steckten, hielten straff die Zügel und lächelte die Kinder freundlich an, als sie eifrig die Treppen des Bahnsteiges heruntergerannt und auf die Kutsche zugelaufen kamen. Neben dem Kutscher saß Betty in ihrer Dienstbotenkleidung mit einer weißen Haube auf dem Kopf. Sie winkte den Mädchen ebenfalls fröhlich zu und sprang dann leichtfüßig vom Kutschbock, um den Mädchen ihre Koffer abzunehmen und sie auf das Dach der Kutsche zu befördern. Dann half sie den Schwestern, nachdem diese sie herzlich umarmt und den Kutscher höflich begrüßt hatten, ins Innere der Kutsche.
Als Jaqueline drinnen saß und sich ans weiche Polster der Sitzbank lehnte, atmete sie erleichtert auf und fühlte zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie Entspannung in sich aufkommen.
Ihr Ärger und ihre Sorge fielen ab, als ihr klar wurde, dass sie sich auf dem Weg in ein weiches Bett und zu einem prachtvollen Anwesen befand, das von Ländlichkeit und Schönheit nur so strotzte.
Ihr fielen die schönen Himmelbetten und die holzgeschnitzten Schränke, Tische und Stühle ein. Sie dachte an die Pferdekoppeln, an die Bibliothek mit den vollgestopften Bücherregalen und den Ballsaal, der früher einmal mit Adligen gefüllt gewesen war, die über die Tanzfläche schwebten.
Und dann fiel ihr wieder das gemütliche Wohnzimmer ein, indem ein warmes Feuer prasselte und durch dessen Fenster man auf das Nachbargrundstück blicken konnte, wo ein Großvater mit seinem Sohn und dessen Söhnen wohnte.
Sie hatte die Söhne ein paar Mal zu Gesicht bekommen, aber mit ihnen gesprochen hatte sie nie. Zu viel hatte sie zu tun gehabt und Großmutter hatte es nie gestattet. Ob es ihr diesmal gelingen würde mit einem zu reden?
Bei dem Gedanken stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen, worauf ihre Schwestern sie mit überraschten Blicken bedachten.

Diener öffneten das breite schmiedeeiserne Tor und die Kutsche hielt vor den hohen Flügeltüren des viktorianischen Anwesens, das aus weißem Kalkstein gebaut war. Behände sprangen die Mädchen aus der Kutsche, Diener eilten herbei und nahmen ihre Koffer an sich und Betty führte die Schwestern durch die große Eingangshalle die breite marmorne Treppe hinauf und ins gemütliche Esszimmer, das mit einem dicken Teppich, breiten Fenstern und einem Spiegel ausgestattet war. Am Esstisch saßen bereits ein älterer Herr und eine alte Frau und löffelten schweigend eine cremige Tomaten-Walnuss-Suppe.
Neben seinem Teller lag eine aufgeschlagene Zeitung, die von den jüngsten Ereignissen des Krieges berichtete. Jaqueline fragte sich, ob er gerade über die Evakuierung las. In einer Ecke des Zimmers wartete ein Dienstmädchen schweigend darauf die Teller hinauszubringen. Die große Standuhr an der Wand tickte gemütlich vor sich hin und verschaffte dem ganzen Zimmer eine zeitlose, langsame Atmosphäre. Die ältere Frau würdigte die Kinder keines Blickes, nicht einmal als sich Margarete zurückhaltend räusperte und verkündete: „Wir sind angekommen, Großmutter.“
„Gut, setzt euch.“, schnarrte der Großvater kalt, ohne den Blick von der Zeitung zu nehmen.
Jaqueline wurde wütend und stampfte mit dem Fuß auf den teppichbelegten Boden.
„Großmutter, Großvater!“, rief sie zornig. „Es ist in keinster Weise respektvoll und höflich uns so zu begrüßen.“
Die Großmutter blickte nun auf und bedachte Jaqueline mit einem kühlen Blick. „Es ist ebenso wenig sittsam mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen, als wäre man ein Junge.“, erwiderte Großmutter frostig.
„Mitnichten! Und es ist doch erstaunlich, dass so eine burschikose Haltung nötig ist, um euch auf eure vier Enkeltöchter aufmerksam zu machen!“, konterte Jaqueline und sie hörte, wie Anne hinter ihr entsetzt nach Luft schnappte, während Tracy und Margarete ein Lachen unterdrückten und taten, als müssten sie sich die Nasen schnäuzen.
„Das lasse ich mir nicht bieten, Jaqueline!“, rief der Großvater wütend, „Nicht von so einem jungen, dürren Ding wie dir!“
„Auf eure Zimmer!“, fuhr die Großmutter sie an und allen verging das Lachen, „Und dort werdet ihr bleiben, bis Jaqueline ihre Sätze aufgeschrieben und sich bei uns persönlich entschuldigt hat.“
Mit finsteren Blicken von Tracy und Margarete und einer empörten Anne im Schlepptau machte sich Jacky zum Abgang nach oben auf.„Und zur Strafe wirst du, Jaqueline Angelique, mir tausendmal den Satz ‚Ich behandle meine Großeltern mit Respekt und begegne ihnen höflich.‘ aufschreiben.“
Sie bedachte die anderen drei Mädchen mit einem kalten Blick. „Und ihr werdet auf euren Zimmern bleiben bis ich ein Dienstmädchen schicke, um euch zu holen.“

„Das haben wir nun davon.“, beschwerte sich Tracy, als sie kurze Zeit später in einem Raum im dritten Stock unterm Dach saßen.
Das Zimmer hatte eine hölzerne Dachschräge, einen kleinen Kamin mit Ofenrohr, zwei Doppelbetten, eines auf der linken, eines auf der rechten Seite des Zimmers, vor den Fenstern hingen Spitzenvorhänge und es gab einen großen runden Tisch mit vier samtgepolsterten Stühlen. Mit finsteren Gesichtern saßen Tracy und Margarete auf dem linken Doppelbett, während Anne auf einem Sessel unter einem Dachfenster saß und las und Jackie auf ihrem Bauch auf dem Teppich lag und mit lustloser Miene das fünfzigste Mal den Satz „Ich behandle meine Großeltern mit Respekt und begegne ihnen höflich.“ auf ein Blatt kritzelte.
„Kein Grund sich weiter darüber aufzuregen.“, murmelte sie genervt, „Ich sag euch die alte Schachtel kommt gar nicht mehr weit. Habt ihr den Rollstuhl gesehen? Die fährt von einem Ort zum andern, und Treppen kommt sie ohnehin nicht mehr hinauf. Ihr Zimmer liegt auch im ersten Stock, wenn sie mal woanders sitzt als im Rollstuhl, dann in ihrem Bett oder in einem Stuhl. Wenn sie uns nicht zum Abendessen ruft, werden wir sie heute gar nicht mehr sehen.“
„Sag so was nicht.“, tadelte Anne streng. „Rede nicht so über unsere Großmutter.“
„Unsere Großmutter ist ein herzloses, altes Biest.“, fuhr Jackie ungerührt fort und nun musste Tracy wieder auflachen. „Ach Jaqueline, hör auf wütend zu sein und entschuldige dich bei Großmama.“
„Jetzt ist sie plötzlich die liebe Großmama?“ Jackie verdrehte die Augen und sprach mit strenger, gebrechlicher Stimme: „Mein Kind, du wirst nicht wieder runterkommen dürfen bis ich es sage.“ Sie hob den Zeigefinger. Tracy musste wieder lachen.
Sogar Anne wagte ein verstohlenes Lächeln. „Ich sage euch, wir haben den besten Platz auf der Welt bekommen. Dieses Haus ist riesig, die Dienerschaft bekommen wir nicht zu sehen und unsere Großeltern erst recht nicht. Die können uns ohnehin gestohlen bleiben.“, brauste Jackie böse auf.
Anne wurde wieder ernster. „Ist das nicht traurig? Wir haben ein riesiges Haus, leben den schönsten Luxus, aber wir befinden uns im Krieg und unseren Großeltern sind wir so entfremdet wie den Nazis.“, sagte sie bedächtig und traurig.
Nun schwieg Jaqueline bekümmert, doch Tracy sagte laut und zufrieden: „Ganz und gar nicht traurig. Der Krieg muss uns nicht kümmern, wir können hier machen, was wir wollen und unsere Großeltern können uns egal sein.“
„Ich sage“, rief Jaqueline enthusiastisch, warf ihren Stift fort und sprang begeistert auf, „dass wir morgen das ganze Haus erkunden. Bis zum heutigen Tag haben wir es noch nicht geschafft uns alle Winkel anzusehen und wer weiß, wie viele Zimmer es noch zu sehen gibt!“
„Großartige Idee!“, stimmten Tracy und Margarete zu und applaudierten, während Jaqueline sich theatralisch verbeugte.
Nur Anne blieb ruhig und blätterte in ihrem Roman. „Macht das nur.“, sagte sie gleichgültig. „Ich werde lesen und artig zu allen Essenszeiten gehen.“
„Und wir werden verstecken spielen, du Langweilerin.“, zog Tracy ihre große Schwester auf, woraufhin sie von Jackie scherzhaft gerügt wurde, die sich mit gebücktem Rücken und gehobenem Zeigefinger vor sie stellte und mit strenger brüchiger Stimme schalt: „Tracy, behandle deine große Schwester mit Respekt und begegne ihr höflich. Und hör auf dir den Bauch zu halten, während du lachst. Das geziemt sich nicht für eine junge Dame.“
Tracy kippte fast vor Lachen vom Bett. Anne verdrehte die Augen und vergrub ihre Nase in ihrem Buch. „Ihr Mädchen!“, knurrte sie beleidigt. Da klopfte es.
Augenblicklich wurden alle still. Tracy und Margarete pressten sich nervös gegen die mit Holzbrettern gebauten Wände. Jackie stürzte sich auf ihr Blatt, um eifrig weiter zu schreiben.
Die runde Tür öffnete sich und Bettys schmaler Kopf erschien im Türspalt. Die Mädchen atmeten erleichtert auf. Betty schmunzelte. „Ich sehe, ihr habt eure Großmutter erwartet?“
„Wir können es nicht leugnen.“, sagte Anne milde und wurde rot.
„Sie wäre wohl kaum hier heraufgekommen.“, meinte Jackie trocken, woraufhin Betty breiter schmunzeln musste. „Immer noch dieselbe Jacky. Nicht mal der Krieg hatte deine Direktheit gemindert.“
Augenblicklich wurde Jaquelines Blick finsterer. „Aber er hat meine Freude um ein ganzes Stück gemindert.“
„Unser aller Freude.“, ergänzte Anne sorgenvoll.
„Wer weiß, ob Vater je zurückkommen wird?“, sprach Tracy nun laut den Gedanken aus, der sie alle quälte. „Wenn ihr daran glaubt, bestimmt.“, munterte Betty sie auf.
„Wenn wir daran glauben, ist das kein Fakt.“, grummelte Margarete.
„Sieh es mal nicht so düster.“, erwiderte Betty, die die einzige der Dienstmädchen war, die uns duzte. Natürlich nur in Abwesenheit der Großeltern.
Dann warf sie einen Blick auf Jackie, die auf dem Bauch lag und weiter ihr Blatt vollschrieb. Sie merkte sofort was los war und griff sich ein Buch aus dem Buchregal, das neben dem rechten Doppelbett stand…

Jetzt sind die Mädchen also bei ihren Großeltern angekommen und scheinen nicht gerade glücklich. Was meinst du, könnte weiterhin passieren und wie geht die Geschichte aus?

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