Ist niemand da?

Ist niemand da?

2. Oktober 2022 Roman 0

Mit schnellen Schritten eilte Cathy über den Fußgängerweg und rannte über den Rasen auf die Veranda und die Haustür zu. Mit einem kräftigen Druck stieß sie die hölzerne Tür mit dem großen, viereckigen Glasfenster auf und rief laut: „Ich bin wieder da!“
Normalerweise müsste jetzt David angerannt kommen, sie einmal kräftig drücken und anschließend ausführlich von seinem Schultag erzählen. Doch nichts regte sich. Cathy zuckte mit den Schultern, warf ihren Rucksack unter die vielen Jacken, die an den Holzhaken im Flur hingen, und hängte ihre Jacke zu den anderen. Leicht streifte sie sich ihre Chucks ab, stellte sie ins Schuhregal und stapfte durch den Flur ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief, aber niemand da war. Hinter dem geräumigen Wohnzimmer mit den breiten Sofas und dem alten, blauen Sessel, der am roten Kachelofen stand, öffnete sich die Küche, die Fenster zum Garten hatte und in deren Mitte sich die Kochinsel befand, in die Cathy schon von Anfang an verliebt gewesen war.
Auf dem Herd stand eine Pfanne, es roch angebrannt und blauer Rauch stieg zum Abzug hinauf. Erschrocken stellte Cathy fest, dass der Speck in der Pfanne vollkommen verbrannt und schwarz war – daher der Geruch. Öl spritzte umher und traf Cathys Hand.
Sie zuckte zurück und fischte dann mit einer Gabel die verkohlten Speckstreifen aus der Pfanne, warf sie in den Müll, griff dann schnell den Henkel der Pfanne, schaltete mit der anderen Hand den Herd aus und stellte die Pfanne ins Waschbecken. Dann ließ sie Spülwasser ins Becken laufen, sodass es zischte und Dampf aufstieg als das kalte Wasser auf die erhitzte Pfanne traf. Ärgerlich sah sich Cathy um.
Weder von Mom noch David eine Spur. Dad würde erst am Abend nach Hause kommen und Tyler und Liam waren noch auf der High School.
„David!“, rief sie wütend und lief durchs Wohnzimmer zurück in den Flur. Hatte er mal wieder versucht sich Mittagessen zu machen. Aber warum war er dann nicht hier unten? Sie schaute im Badezimmer nach. Fehlanzeige.
Dann polterte sie die Treppe hoch und schaute in seinem Zimmer nach.
Die Regale waren mit Büchern, Blechbüchsen, kleinen Flugzeug-, Schiffs- und Automodellen vollbeladen und an den Wänden hingen Poster von bekannten Rennfahrern wie Lewis Hamilton.
Das Bett, das auf der linken Seite des Zimmers, direkt unter einem Fenster stand, war mit Cars-Bettwäsche bezogen und der Formel-1-Schlafanzug lag ordentlich zusammengefaltet auf der zusammengelegten Decke. Der CD-Rekorder lief, aber David war nicht im Zimmer.
Cathy runzelte die Stirn. Langsam wurde das Ganze mysteriös.
Warum liefen Fernseher, CD-Rekorder und sogar der Herd verbrannte fast, aber niemand war im Haus?
Cathy ging in alle übrigen Zimmer, doch David blieb verschwunden.
Sie verdrehte die Augen. Er spielte ihr wieder einen Streich! Das war es!
Laut rief sie seinen Namen. „Okay, David, du kannst rauskommen! Der Spaß ist vorbei! Dein Essen ist dir fast angebrannt!“ Nichts rührte sich. Kein David, der lachend aus dem nächsten Schrank lugte.
War er etwa entführt worden? Quatsch! Cathy eilte die Treppe hinunter, öffnete die Tür, ging raus auf die Veranda und rief laut. Sie eilte ums Haus herum und schaute hinter jeden Baum und in das hölzerne Spielhaus, während sie weiter seinen Namen rief.
Jetzt war sie verwirrt. Wenn er nicht hier war, wo dann?
Sie ging wieder ins Haus zurück und beschloss, sich erstmal keine Sorgen zu machen.
Lieber etwas essen, um den Appetit zu stillen, der sich nun breitmachte. So säuberte sie die Pfanne, besorgte sich etwas Speck aus dem Kühlschrank und ein Ei. Dann toastete sie sich zwei Brote, würzte den Speck und packte das Spiegelei mitsamt dem Speck aufs Brot, das mit Barbecue-Sauce bestrichen war. Damit setzte sie sich vor den Fernseher und schaute gelangweilt zu, wie der graue Kater Tom die freche braune Maus Jerry verfolgte bis plötzlich ein blonder Fernsehmoderator mit blauem Hintergrund die Sendung unterbrach und verkündete: „Uns erreichen tausende Nachrichten und Fotos, die uns Erschreckendes mitteilen. Binnen weniger Millisekunden verschieden mehrere Millionen Menschen um 13:45 Uhr. Mehrere Flugzeuge stürzten ab, Piloten berichten vom Verschwinden vieler Passagiere, es gab tausende Unfälle, Verletzte und Tote.“
Cathy blickte ungläubig auf den Bildschirm, als sie die Aufnahmen von Verkehrskameras sah, bei denen ein Paar im Auto saß und beide sich plötzlich in Luft auflösten samt ihren Klamotten, während das Auto plötzlich von der Fahrbahn glitt, stehenblieb und der Fahrer dahinter nicht schnell genug bremsen konnte und in das Auto krachte, wobei das nächste sogar hintendrauf fuhr. Sie konnte kaum glauben, was sie sah, als Videos von Einkaufsläden gezeigt wurden, wo sich die Verkäufer an den Kassen in Luft auflösten und sogar Kunden, die gerade einen Korb in der Hand hielten, verschwanden, wobei der Korb zu Boden fiel, umkippte und die Lebensmittel sich auf dem Gang verstreuten.
Der Moderator fuhr sichtlich angespannt fort: „Uns erreichen momentan tausende Meldungen, dass Millionen von Menschen vermisst werden und verschwunden sind, aber wir versprechen ihnen, dass wir so bald wie möglich eine Ursache finden werden.“
Das kann doch nicht war sein. Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete aus.
Einen Moment lang starrte sie auf ihr Spiegelbild im Fernseher und schüttelte den Kopf.
Ungaublich, was das Fernsehen berichtete. Das musste ein billiger Scherz sein.
Allerdings…
Fest biss sie die Zähne zusammen und sprang auf.
Wenn dem wirklich so war, wie es das Fernsehen berichtete, dann würde sie auf keinen Fall hier sitzen bleiben und nichts tun. Sie rannte in den Flur, zog sich ihre Jacke an, streifte ihre Chucks über und eilte aus dem Haus und auf die Straße.
Sie wusste, wen sie aufsuchen würde. Nur, weil Menschen plötzlich verschwunden waren, hieß dass nicht, dass ihre Familie auch weg war. Abrupt blieb sie stehen. Das klang alles erstaunlich genau wie aus diesen Left-behind-Romanen, die David in letzter Zeit geradezu verschlungen hatte.
Ihre Mom glaubte diesen Schwachsinn sogar, ihr Dad nicht. David selbst las die Bücher, weil er sie aus literarischer Sicht sehr interessant fand. Mom war, nachdem sie sich bekehrt hatte, in eine Gemeinde im Ort gegangen und nach den mittwöchentlichen Gebetsabenden freudestrahlend wieder nach Hause gekommen. „Ich habe keine Angst mehr vor der Endzeit!“, hatte sie eines Mittwochabends beim Essen verkündet. „Denn ich weiß jetzt, dass Jesus die Gläubigen vor der großen Trübsalzeit zu sich in den Himmel holen wird.“
Tyler und Liam hatten die Stirnen gerunzelt, aber nichts gesagt, doch Dad war sofort in die Offensive gegangen. „Ach, ist das so?“, hatte er sie herausgefordert und sie hatten ihn angesehen, als hätte er öffentlich Jesus geleugnet. „Natürlich ist das so!“, hatte sie behauptet und war eifrig fortgefahren: „Jesus wird alle Gläubigen holen und wir werden entrückt werden.“
„Alle Gläubigen?“, hatte nun Tyler provozierend nachgehakt.
„Auch uns, die wir nicht an die Entrückung glauben?“, hatte Cathy hinzugefügt und Dad, Tyler, sie und Liam hatten Mom provokativ angegrinst.
Fassungslos hatte Mom sie angeblickt. „Wie könnt ihr nicht daran glauben?“
„Willst du damit sagen, dass Gott uns nicht holt, weil wir nicht an die Entrückung glauben, und dass, obwohl wir Christen sind?“, hatte Tyler gekontert und darauf hatte Mom keine Antwort gewusst.
Cathy schüttelte wieder den Kopf. „Schwachsinn. Es muss einen logischen Grund geben!“
Aber was, wenn es, entgegen aller Vorstellung wahr war? War Mom dann jetzt weg?
Schluss damit! Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Wenn David sonst irgendwo war, dann bei ihrem Freund Chris.
Obwohl er so alt war wie sie und somit zwei Jahre älter als David, hatten die beiden eine enge Freundschaft, was Cathy manchmal ein bisschen neidisch gestimmt hatte.
Doch diesmal wünschte sie sich von ganzem Herzen, David möge bei Chris sein.
Sie rannte die Straße hinunter, kein Auto fuhr auf der Straße, alle standen an den Straßenrändern, aber in den Häusern war es still. Cathy dankte dem Himmel, dass es hier keine Massenkarambolagen gegeben hatte und hoffte, dass nicht auch noch weitere Familien Verluste gemacht hatten.
Und was, wenn es Chris getroffen hatte? Was, wenn er verschwunden war?
Der Gedanke traf sie überraschend und sie begann langsam los zu laufen. Das konnte nicht wahr sein, es fühlte sich an wie ein dummer Traum. Es konnte nicht real sein. Sie schlenderte die Straße hinunter, Haus um Haus zog an ihr vorbei. Nachdenklich betrachtete sie die Häuser und fühlte sich von einer seltsamen Ruhe umgeben, wie jemand, der gerade aufgewacht ist und keine Ahnung hat, was passiert ist. Sie blickte die meist weißen Häuser an und schaute die breite Straße hinunter. Der Gehweg war erbärmlich schmal, nicht mal zwei Leute konnten hierauf nebeneinander laufen. Cathy lief fast nie irgendwohin, wenn sie schon aus dem Haus ging, dann fuhr Tyler sie mit seinem Auto. Fahrräder standen im Schuppen, aber es gab ja keine Möglichkeit Fahrrad zu fahren.
Die nahmen sie nur mit, wenn sie im Wald campen gingen oder aufs Land zu ihren Verwandten in Nebraska fuhren. Zu dumm, dass sie noch kein Auto fahren durfte, aber Chris erreichte sie auch zu Fuß. Sie schaute sich um und war frustriert. Von David keine Spur! Und die Straße war leer. Das war ja an sich nichts neues, zu der Zeit waren alle Erwachsenen auf Arbeit und die Kinder in der Schule, aber diesmal war es still. Sie blieb stehen und lauschte. Kein Vogel war zu hören, kein entferntes Motorgeräusch von Autos, keine Stimmen. Seltsam berührt lief sie weiter. Beinahe unheimlich einsam und ruhig war es hier.
Schließlich bog Cathy auf den Weg vor Chris‘ Haus ein und lief zur Veranda. Dort pfiff sie einmal.
Eine eintönige Stille herrschte nach ihrem Pfiff.
Misstrauisch sah sie sich um. Normalerweise kam der Bernhardiner Jolly ums Haus herumgerannt, sobald sie pfiff. Er kannte sie gut und unterschied ihren Pfiff von allen anderen.
War er etwa auch verschwunden? Cathy beschloss nicht daran zu glauben. Was auch immer das Fernsehen berichtete. Vorsichtig stierte sie durch das Fenster der Haustür in den Flur, wo Jacken an den Haken hingen und viele Schuhpaare geordnet in zwei Schuhregalen standen. Cathy sah Chris‘ Nike-Schuhe, die Regengummistiefel von Chris‘ kleiner Schwester Georgie, die mit David in eine Klasse ging, und noch weitere Schuhpaare, von denen nur wenige eindeutig Chris‘ Vater oder seiner Mutter zu gehören schienen. Der Flur war ziemlich groß und auf der linken Seite befand sich eine teppichbelegte Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Cathy drehte sich um, trat einige Schritte zurück und rief nach Jolly, pfiff erneut und klingelte dann an der Haustür. Zu ihrer Erleichterung ertönte im selben Moment lautes, tiefes Gebell und durch das Fenster der Tür sah sie Jolly, der schwanzwedelnd angerannt kam und sie durch das Fenster anbellte. Dann hörte er abrupt auf und wedelte nur noch mit dem Schwanz und hinter ihm tauchte ein Junge im Flur auf.
Der Junge trug eine schwarze Jeans und einen graugrünen Strickpullover und ein Teil seiner vollen, braunen Locken lugte unter einer schwarzen Mütze hervor, die er auf dem Kopf hatte.
Er wirkte überrascht als er sie sah, schien ein wenig besorgt und beeilte sich die Tür zu öffnen.
„Hast du die Nachrichten gesehen?“, fragte er und ließ sie ins Haus.
„Ja, und ich wollte fragen, ob David bei dir ist.“, erwiderte sie und zog sich die Schuhe rasch aus.
„Warum sollte er hier sein?“, fragte Chris und schien verwundert. Cathy sank das Herz. „Er ist also nicht hier?“ Sie seufzte ein wenig verzweifelt und berichtete, während sie beide ins Wohnzimmer gingen, von ihrem Haus, das sie vollkommen leer aufgefunden hatte, dem angebrannten Speck und von David keine Spur. Jolly folgte ihnen und legte sich auf den großen Teppich, der fast über den ganzen Wohnzimmerboden reichte.
„Sein Schulbus setzt ihn immer um diese Zeit ab und das ganze Haus sah aus, als wäre jemand da. Ich meine, niemand aus meiner Familie würde das Haus verlassen, während er sich Bacon brät. Es sei denn, David wollte schnell zu dir rüber.“
Chris setzte sich auf das Sofa, das sich auf der linken Seite des gemütlichen teppichbelegten Raumes, gegenüber vom Fernseher und zwei großen Fenstern links und recht vom Fernseher, befand. Dann schüttelte er seinen Lockenkopf und sagte mit nachdenklicher Stimme: „Ob er sich auch in Luft aufgelöst hat wie all die anderen Menschen?“
Cathy wurde frustriert. „Aber das macht überhaupt keinen Sinn!“, rief sie aus und ballte die Fäuste. „Niemand kann sich einfach so in Luft auflösen. Und was soll denn mit diesen Menschen passiert sein?“
„Hast du Infinity War geguckt?“ Chris schien es auch nicht besser zu wissen.
„Es gibt keine Titanen und auch keine bescheuerten Infinity-Steine.“ Cathy war nicht bereit an irgendwelche Theorien zu glauben, ehe nicht etwas bewiesen war.
Chris stand auf und schlenderte in die Küche. „In dem Fall bringt es nichts weiter rum zu raten. Weder dir noch mir und solange niemand wirklich weiß, wie das passiert ist, kannst du mit deiner Familie von hier aus gerne telefonieren, ihnen sagen, wo du bist und währenddessen, mache ich uns Sandwiches.“
„Und baked beans, bitte.“, fügte Cathy hinzu und griff nach dem Telefonhörer.
Chris verschwand in der Küche und Cathy lauschte dem Tuten des Telefons.
Schließlich klickte es und jemand nahm ab. „Ja?“
Es war Dad. Cathy war erleichtert.

So weit, so gut. Cathy hat ihren Freund aufgesucht, aber ihr kleiner Bruder ist verschwunden. 
Ob noch weitere Familienmitglieder fehlen? Und welche Neuigkeiten bringt Dad im Anruf?
Wie soll es weitergehen und hatte Cathys Mutter am Ende doch Recht?

Eigentlich soll dies nur eine Kurzgeschichte werden, bzw. ein Kapitel und das wäre hiermit vorbei.
Ich veröffentliche auch noch andere Geschichten, also bleibt dran! 😉

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