Der Reiher, das Grauhörnchen und warum es sich lohnt früh aufzustehen
Heute morgen muss ich um ca. 5 Uhr aufgewacht sein, denn ich lag eine ganze Weile im Bett und als ich auf die Uhr schaute war es 7 Uhr 05. Ich wusste, dass ich nicht mehr einschlafen würde, also stand ich auf, zog die Vorhänge zurück, klappte mein Bett wieder zum Sofa zusammen, duschte mich und zog mich an.
Dann zog ich mir meine Jacke über, schlüpfte in meine Schuhe, schnappte mir meine Bibel und lief durchs sonnendurchflutete Wohnzimmer zur Tür hinaus. Meine kleine Gastschwester war bereits wach und lag lesend in ihrem Schaukelbett, das im Wohnzimmer steht.
Ich sagte ihr, ich würde runter zum See gehen und befand mich kurz darauf auf der asphaltierten Straße, die zum Gewässer führt. Am See angekommen, sah ich zu, wie die Sonne hinter den kühlen, dunklen Tannen aufging und das glitzernde Wasser beschien, während der Nebel aus den Wiesen aufstieg und über dem Wasser schwebte bis er verdampfte.
Im gemütlichen Trab lief ich auf dem grauen, steinigen Weg um den See herum und beobachtete einen Reiher, der sich auf dem Geländer eines Holzstegs niederließ. Mit bedächtigen Schritten näherte ich mich ihm und er begann leise schnarrende Geräusche von sich zu geben, die irgendwie bedrohlich klangen. So blieb ich stehen und setzte mich ihm gegenüber auf eine Bank, las in der Bibel, während er sich ab und an mit dem Schnabel putzte und mir hin und wieder einen Blick zuwarf.
Plötzlich schlug er mit den Schwingen und stürzte sich ins Wasser, wo er einen Augenblick saß und dann mit dem Schnabel zustieß. Ich sog beeindruckt und auch erstaunt die Luft ein, als er wieder auftauchte, nass, aber mit einem fetten großen Fisch im Maul, der gut zwanzig Zentimeter groß war.
Damit schwang er sich in die Luft und flog dicht über dem Wasser davon, wobei er glitzernde Wassertropfen verteilte und seine Flügel bei jeder Berührung des Wassers ebenjenes hoch aufspritzen ließen. Dann ließ er sich ein wenig schwerfällig auf der linken Seite des Sees nieder und hielt seinen Fisch im Schnabel, offensichtlich ratlos, was er damit machen sollte, denn nach mehreren Versuchen ihn zu ertränken, wobei er ihn ins Wasser tunkte, ließ er ihn ins Gras fallen, um ihn sofort wieder in den Schnabel zu nehmen.
Neugierig stand ich auf und lief zu ihm hinüber, gespannt, was er denn mit dem Fisch machen würde. Ich nahm an, dass er ihn aufspießen oder aufschlitzen würde, aber stattdessen tat er etwas, was mich ziemlich überraschte. Er tunkte den Fisch erneut ins Wasser und dann schluckte er ihn einfach hinunter. Einfach so. Anschließend nahm er noch ein paar Schlückchen Wasser, schüttelte sich und ließ die Hälfte des Wassers wieder aus seinem Schnabel spritzen. Wassertropfen flogen umher, dann schwang sich der Graureiher in die Luft.
Ich drehte mich um und lief vom See den Weg zurück den ich gekommen war, wobei ich falsch abbog und meine Runde verlängerte. Fast am Haus angekommen, sah ich etwas aus den Augenwinkeln einen Strommast hinaufhuschen. Ich erstarrte und drehte den Kopf. Ein Grauhörnchen krallte sich an den hölzernen Strommast und starrte mich mit großen Augen an. In seinem offenen Maul steckte eine Nuss.
Es kraxelte höher und hielt immer wieder an, starrte mich verdutzt an, die Nuss in seinem Maul.
Schließlich erreichte es die Spitze des Pfahls und hockte dort oben, mit der Nuss im Maul, beinahe sprungbereit. „Willst du mir ins Gesicht springen?“, murmelte ich ein wenig verängstigt und starrte zurück. Das Grauhörnchen saß einen Moment lang auf der Spitze, dann kletterte es hastig über die dünne Stromschnur, blieb dort kurz sitzen, knabberte ein wenig an seiner Nuss und hastete dann weiter.
Schmunzelnd kehrte ich zum Haus zurück und dachte mir: Es lohnt sich also früh aufzustehen.