1. Kapitel: Hello High
Ich musste niesen. Die Morgensonne schien in mein Gesicht.
Wartend stand ich am Rand der staubigen Landstraße, die irgendwo ins Nirgendwo hin führte. Es war 7:30 Uhr. Der gelbe Schulbus hatte Verspätung. Seufzend wandte ich mich von dem hellen Licht ab und blickte ungeduldig wartend die Straße hinauf und hinunter. Hinter mir lag die Farm, auf der anderen Seite erstreckten sich Felder und ich konnte in weiterer Entfernung die Kleinstadt entdecken. „Wann kommt dieser elende Bus.“, murrte ich und blickte Montana an, der hechelnd neben mir saß. Er hatte mich vom Haus bis hierher begleitet. Jack fuhr mit Layton und Beth mit, die aber schon um 6 das Haus verließen und da ich keine Lust hatte so früh aufzustehen, wartete ich lieber auf den Bus. Veronica wurde von Mom zur Elementary gefahren.
Mit einem Seufzen musterte ich meine Chucks. Vor knapp drei Monaten hatte ich mich auf die High-School gefreut, jetzt, da der Sommer vorüber und der Herbst gekommen war, hoffte ich nur nicht gleich an meinem ersten Tag von den großen Tieren auf dem Schulhof auseinander genommen zu werden.
Der Besuch unserer Großeltern war wie immer verlaufen.
Grannie hatte mir stets neugierig über die Schulter geschaut und in übertrieben gekünstelt hoher Stimme mit mir gesprochen, als sei ich ein kleines Baby und Poppy hatte nachts so dermaßen laut geschnarcht, dass selbst die Ohrstöpsel nicht geholfen hatten. Als Geburtstagsgeschenk hatten sie mir einen rostroten Kaschmir-Pullover und blaue Gummistiefel geschenkt, weil ihnen nichts Originelleres eingefallen war. Ich seufzte erneut.
Meine Junior-Zeit war vorbei, aber wirklich traurig stimmte mich das nicht. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht schlimmer werden konnte als die Junior High. Die hatte ich mit Rachel mehr schlecht als recht bestanden, wir waren nicht gerade die Beliebten gewesen. Das waren die, die sich nach der neuesten Mode kleideten, mit 10 schon einen boyfriend hatten und sich immer aufgedonnert schminkten. Oder die aus dem Soccer-Team.
Aber der Sport wurde nicht mehr in der High gespielt.
Das Einzige was man jetzt noch spielte war Basketball, Football und Gymnastik oder Weight Lifting. Die Cheerleader gingen immer mit den Football-Boys und die Rednecks mit den wild girls. Außerdem hatte jedes Mädchen einen Partner mit dem es auf den Homecoming-Ball gehen konnte, und wenn man sich an die ungeschriebenen Regeln hielt, besonders gut in Sport war oder beliebte Leute auf der High kannte, konnte nichts schiefgehen.
So war das auf der High-School, hatte Layton erzählt, als ich ihn vor einer Woche danach gefragt hatte. Für ihn zumindest. Aber er hatte auch zu den coolen Basketball-Profis gehört, die mit dem Strom der Schule schwammen und seine ganze High-School-Zeit war alles in allem sehr glatt gelaufen. Gut, hatte er zugegeben, manchmal war er noch als „der Cowboy“ abgestempelt worden, aber seinen Kumpels – und von denen hatte er viele gehabt – hatte das gefallen.
Der Glückliche.
Hoffentlich hatte die Lindbergh-High einen Musik-Kurs oder irgendetwas für künstlerisch Begabte. Dafür blieb mir aber keine Zeit, denn der Schulbus würde mich immer direkt nach der Schule nach Hause bringen. Mich und meine Freunde. Nun, ich hoffte, dass ich mir hier Freunde machen würde.
Am besten eine Clique voller guter Freunde, Kurse mit tollen Angeboten, sehr gute Noten und sowieso ein gutes Image. Klar, ich war nicht jemand, der versuchte sich nach anderen zu richten, aber mir das Leben zu Hölle machen, weil ich als Loser oder Spinner galt, wollte ich auch nicht.
Montana schreckte mich mit einem lauten Bellen aus den Gedanken hoch. Da kam der Bus über die Straße gefahren und hielt mit einem Quietschen, Zischen und Dampfen vor der Farm. Einige Schüler lugten neugierig aus den Fenstern, als sie Montana entdeckten und ich machte eine Geste Richtung Farm. „Lauf, Montana!“ Und Montana drehte sich um und rannte zur Farm zurück. Ich stieg die Stufen hoch und quetschte mich durch den schmalen Gang des Busses. Eine Sitzbank war frei. Dort saß Rachel. Ungefähr in der Mitte des Busses mit Blick aus dem Fenster. Natürlich saß sie am Fenster. Sie liebte es hinauszuschauen und ihren Gedanken nachzuhängen. Und das tat sie auch, während ich vor Aufregung die Jungen eine Reihe vor uns ansprach, die ungefähr in unserem Alter waren, aber nicht sonderlich Lust hatten mit mir zu reden.
Die Fahrt dauerte nicht lange, etwa zehn Minuten, und dann hielt der Bus vor einem großen modernen Gebäude mit großen Fenstern. Neben dem großen Schulhof, der, zu meiner heimlichen Freude ein Klettergerüst besaß, war ein riesiger Footballplatz, dahinter ein Basketballkäfig und es gab sogar eine Schwimmhalle. Das ganze Gelände wirkte farbenfroh und war mit vielen Eichen und Tannen ausgestattet. Die vielen Schüler standen in mehreren Gruppen zusammen. Verunsichert trippelte Rachel hinter mir her, über den Schulhof auf das Gebäude zu. Die Uhr über den gläsernen Türen, die automatisch aufgingen, zeigte 7 Uhr 40. Ich atmete erleichtert auf.
Erst zwanzig Minuten würde der Unterricht beginnen.
Das Foyer bestand aus einer breiten Halle, von der aus mehrere Gänge und Treppe verliefen, und einer Rezeption, wo ich mich nach unserem Klassenraum erkundigte. Die ID-Card hatte ich bereits vor den Ferien zugesendet bekommen und sie baumelte um meinen Hals.
Rachel und ich eilten eine der drei breiten Treppen hinauf und liefen den breiten Gang mit den hohen Fenstern, den vielen, bunten Postern und Schließfächern entlang. Die letzte Tür links war unsere. Mit zielsicheren Schritten ging ich hinein in den Klassenraum und sah mich um, während Rachel schüchtern folgte.
Es war ein großer Raum mit viereckigen Partnertischen ausgestattet, Poster über Tiere, Sport und Natur hingen an der Wand auf der rechten Seite. Die linke Seite war mit großen Fenstern ausgestattet (fast alles an dieser High-School war mit großen Fenstern ausgestattet) und das Sonnenlicht strahlte hell und freundlich herein. Der Boden war seltsamerweise aus Holz, aber das verlieh dem hellen Raum noch eine freundlichere Atmosphäre. Eine große amerikanische Flagge hing über dem Whiteboard. Die Tische waren aus Holz und hatten zu meiner Begeisterung Schubfächer. Auf jedem Tisch standen Kärtchen mit Namen darauf. Ich verdrehte die Augen. „Toll, jetzt müssen wir uns unsere Tische suchen. Und wahrscheinlich sind wir zwei nicht einmal an einem Tisch.“
Rachel zuckte mit den Schultern. „Solange ich nicht neben einer Zicke oder einem Streber sitzen muss…“, murmelte sie, wirkte aber ebenfalls nicht zufrieden und begab sich mit vorsichtigen Seitenblicken auf die Suche nach ihrem Platz.
Mehr und mehr Schüler strömten herein und suchten sich ihre Sitzplätze. Es wurde ein schönes Gedränge. Ein Mädchen stolperte mit ihrer Umhängetasche, als ein anderes Mädchen sie anrempelte, um an ihren Sitzplatz zu gelangen.
Dann entstand ein großer Streit, weil das Mädchen feststellte, dass der Sitzplatz, den sie für ihren gehalten hatte, eigentlich dem Mädchen, das sie angerempelt hatte, gehörte.
Während die Jungs ein dramatisches Theater machten, um als erste ihre Plätze zu erreichen, huschte ich durch die Reihen und fand in der dritten Reihe direkt am Fenster mein Namensschild.
Neben meinem Schild stand ein weiteres. Schnell entzifferte ich den Namen. „Noah S. County“, las ich und hängte meine Schultasche an den Haken auf meiner Seite des Tisches.
Dann packte ich Federtasche, Notizblock und Hausaufgabenheft aus und stützte meinen Kopf in die Hände, während Rachel mir von ihrem Platz auf der Wandseite, zwei Reihen hinter mir, schüchtern zublinzelte und die Jungen und Mädchen sich weiterhin zankten. Ich starrte aus dem Fenster hinunter auf den Schulhof, sah den Schülern zu, wie sie in die Schule strömten und malte mir aus, wie mein Sitznachbar wohl aussah.
Noah… Das klang für mich nach einem dünnen, blonden Jungen mit kleiner Körperstatur und Sommersprossen. Möglicherweise eine Jeans oder vielleicht auch einen Cowboyhut auf dem Kopf wie Layton. Ein lauter Junge, der gerne Witze machte und im Unterricht störte. Oder ab und zu zu spät kam. Das klang für mich nach einem Noah. So stellte ich ihn mir vor und hoffte innigst, meine Vorstellungskraft würde im Unrecht sein.
Noah S. County… Wie sein zweiter Name wohl lautete? Vielleicht stand das S für Sean oder Simon oder sogar für einen ganz alten Namen wie Siegfried. Möglicherweise hatte er auch einen Namen, den es gar nicht gab oder einen Namen aus einer ganz anderen Sprache. Vielleicht hieß er mit zweitem Namen Stephen oder irgend so etwas.
Während ich also über das Aussehen und den zweiten Namen meines zukünftigen Sitznachbarn nachdachte, die Jungen sich rangelten und die Mädchen sich beschimpften, kam mit großen Schritten der Lehrer herein. Er war ein junger, großer Mann mit blonden Locken und einer kräftigen Statur. Sein Gesicht war ziemlich kantig und seine hellblauen Augen strahlten uns freundlich an. Dennoch lag etwas in seinem Aussehen und Auftreten, was mir missfiel, obwohl er an sich ziemlich gut aussah. Also, zumindest meiner Ansicht nach. Ich musterte ihn vorsichtig, während er sich umsah und sein Lächeln einem missbilligenden Blick wich.
In diesem Moment klingelte es und durch die Lautsprecher ertönte die Stimme einer Frau, die sagte: “Guten Morgen, Lindbergh-Highschool, jeder erhebt sich bitte für den Pledge of Allegiance.” Augenblicklich wurde es ruhig und alle standen auf und legten ihre rechte Hand auf ihr Herz. Diejenigen, die noch standen, oder gerade dabei waren ihren Platz zu finden, stellten sich neben einen Tisch und taten dasselbe.
Laut sprachen die meisten von uns, ich eingeschlossen, den Pledge of Allegiance mit, schworen Treue der Flagge der Vereinigten Staaten und der Republik, für die sie stand, einer Nation, unter Gott mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle und kaum war die Ansage vorbei, begannen die Jungen wieder zu rangeln.
Der Lehrer bat um Ruhe. Einer der größeren trat mit trotzigem Gesicht vor, seine Locken sahen ziemlich zerzaust aus. „Wir versuchen ja gerade unsere Sitzplätze zu finden.“, fauchte er missmutig.
Der junge Lehrer schaute sich um und meinte dann mit scharfem Unterton: „Das sah mir aber gerade eben eher nach einer Rangelei aus. Sucht euch ruhig und leise eure Sitzplätze.“
Tatsächlich gehorchten die Jungen und gingen mit ihren Schultaschen umher. Ich sah zu dem Jungen, der sich gerade dem Lehrer entgegengestellt hatte. Ob er dieser Noah war? Neugierig blickte ich mich um. Der blondgelockte, große Junge kam auf meinen Tisch zu. Gespannt hielt ich die Luft an. Doch er lief nur an meinem Tisch vorbei, um sich zwei Reihen hinter mich zu setzen. Vorsichtig schielte ich nach hinten.
Er saß hinter einem Schild, auf dem der Name „Kane Miles“ stand.
Das war also nicht Noah, sondern Kane. Neben ihm saß ein Mädchen namens Fiona. Der Lehrer begann seine Tasche auszupacken und mehr und mehr Jungen und Mädchen fanden ihre Plätze.
Am Tisch neben mir saßen zwei Mädchen. Das Mädchen auf dem linken Platz hatte schwarze Locken und mokkabraune Haut und hieß Laura, das Mädchen auf dem rechten Platz hatte kupferrote, wellige Haare und hieß Noemi.
Noemi lächelte mir freundlich zu und fragten ganz offen: „Auch dein erster Tag? Wie ist es? War dein Weg hierher lang?“ Erfreut über ihre herzliche Art, antwortete ich: „Ja, mein erster Tag. Im Großen und Ganzen geht’s mir gut. Ich frage mich nur wie mein Sitznachbar aussieht.“ Noemi lugte auf das Schild links von mir und machte große Augen. „Du sitzt neben Noah County?“ Sie quietschte aufgeregt und blinzelte mehrmals schwärmerisch. Laura lächelte fast ein wenig neidisch und nickte mir zu. Verwundert sah ich die beiden Mädels an. „Kennt ihr ihn?“ Heftig nickend rief Noemi: „Und ob!“ Und sie erklärte aufgeregt: „Noah war auf unserer Elementary-School und so ziemlich der süßeste Junge im ganzen Jahrgang.“ Ich seufzte. Auf so ein Gerede konnte ich gut und gern verzichten.
Aber sie plapperte schon hingerissen weiter: „Noah ist so ziemlich der klügste, netteste und auch süßeste Junge, in der ganzen Nachbarschaft und auf der Schule.“
„Ich habe ihn seit drei Jahren aber nicht gesehen.“, bemerkte Laura traurig. „Er hat die Schule gewechselt.“ Noemi kicherte. „Wetten, er sieht jetzt noch besser aus als früher?“ Sie brach in ein nervtötendes Gekicher aus, während Laura wieder schwieg. Mit einem genervten Seufzer drehte ich den Kopf weg und starrte aus dem Fenster. Auf irgendeinen eingebildeten, neunmalklugen Schönling, dem lauter Mädchen zu Füßen fallen, konnte ich verzichten. Aber neugierig machte mich das Gerede doch ein bisschen. Was war dieser Noah für ein Typ? Noemie hatte gesagt, er sei „klug“. War er gut in der Schule? Wenn ja, konnte das für mich von großem Vorteil sein, denn der Stoff würde schwerer werden. Noemi stieß mich mit der ausgestreckten Hand an.
„Aber keine Sorge. Wir werden dir Noah nicht ausspannen.“, lachte sie.
Ich starrte sie verwirrt an. „Wie kommst du denn darauf?“
Sie winkte ab. „Wir waren in ihn verliebt. Sind es aber nicht mehr. Laura schwärmt zwar immer noch ein bisschen von ihm, aber…“
Laura wurde rot und drehte beschämt den Kopf weg. Ihre Freundin zuckte wegwerfend mit den Schultern, zog die Augenbrauen hoch und grinste vielsagend, worauf ich nur verwirrt nickte und mich wieder zum Fenster drehte.
Der Lehrer hob den Kopf und blickte zu uns herüber.
„Noemi Caprees und Laura Tiifu, richtig?“, rief er. Die beiden Mädchen nickten brav, Noemi plötzlich ganz still. Der Lehrer deutete auf einen freien Tisch in der ersten Reihe. „Da muss wohl ein Fehler unterlaufen sein. Ihr zwei gehört nach vorne.“ Mit einem enttäuschten Seufzen stand Noemi auf, packte ihre Sachen zusammen und lief nach vorne.
Laura folgte ihr schweigend. Der Lehrer nickte zufrieden und wandte sich der Tafel zu. Ein paar Schüler huschten noch in den Klassenraum und durch die Reihen. Ich wandte meinen Blick wieder auf den Schulhof. Außer dem Hausmeister, der eine Mülltonne vom Basketball-Platz schob, und ein paar älteren Schülern, die rauchend unter einer Kastanie standen, befand sich niemand mehr auf dem Hof. Aber durch die Gänge hallte das aufgeregte Geplapper und Getrappel hunderter Schüler. Mein Blick schweifte zur Uhr. Zehn vor 9 am. Wann kam dieser Noah? War er vielleicht krank? „Noah S-irgendwas County.“, murmelte ich leise und holte einen roten Filzstift aus der Federtasche. Dann kramte ich einen karierten Schreibblock hervor und zeichnete langsam und in ordentlicher Schrift alle Buchstaben seines Namens auf ein Blatt. Nach dem S hielt ich an. S…ilas? S…amuel? Meine Güte, dass mich der zweite Name meines Sitznachbarn so beschäftigen würde, hätte ich nicht gedacht.
Ich riss das Blatt ab und zerknüllte es. Dann warf ich es mit einem gekonnten Wurf in den Mülleimer unter der Tafel. Bewunderndes Pfeifen und Applaus ertönte. Ich grinste stolz, neigte übertrieben höflich den Kopf und schielte zu Rachel hinüber, stumm und verschüchtert neben ihrer Sitznachbarin saß, die anscheinend versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
Ich seufzte. So begann also mein erster Schultag. Zugegeben, so schlecht war es auch nicht. Die Klassenkameraden wirkten nett, ich hatte einen schönen Klassenraum und einen Lehrer, der einen … nun … höflichen Eindruck machte. Nur mein Sitznachbar fehlte und ich grübelte über seinen zweiten Namen nach. Der Lehrer stand vorne an der Tafel, die Zeiger der Uhr näherten sich bedrohlich der zwölf und immer noch kein Noah in Sicht. Übrigens schien sowieso ein Viertel der Klasse zu fehlen. Bis jetzt waren gerade mal zehn Jungen und sieben Mädchen im Raum und es gab vierundzwanzig Sitzplätze mit vierundzwanzig Namensschildern. Da merkte ich plötzlich, dass jemand neben meinen Tisch getreten war. Hastig schob ich meine über den Tisch verteilte Materialien auf meine Seite. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Person ein blaugestreiftes Hemd und eine ausgewaschene Jeans trug. Das war dieser Noah! Ganz bestimmt! Ich hob den Kopf.