2. Kapitel: Noah S. County
Mit großen Augen blickte ich meinen Sitznachbarn an. Er sah völlig anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Aber völlig anders. Er war etwa 1,63 m groß (von wegen große Körperstatur), hatte nussbraunes Haar (so viel zum Thema blond) und war schlank und sportlich (nichts mit breit gebaut). Seine Augen waren genauso braun wie seine Haare und die hatte er sich in einem Pony schräg über die Stirn gekämmt. Er lächelte mich freundlich an und fragte mit weicher, hoher Stimme: „Ist das hier mein Platz?“ Ich sah ihn an und lächelte zurück. „Ähm ja…“
Eilig nahm ich noch meinen Block von seiner Seite des Tisches und grinste kurz. „‘Tschuldige. Du bist die ganze Zeit nicht gekommen. Ich dachte, du wärst krank.“ Noah lächelte entschuldigend. „Der Bus hatte Verspätung.“
Verwundert sah ich ihn an. „Mein Bus kam pünktlich. Aus welcher Richtung kommst du denn?“, fragte ich. „Richtung Mocca-Street.“, erklärte er. „Und du?“
Ich antwortete: „Ich komme aus der Farmer-Siedlung. Der Bus kommt aber immer an der Mocca-Street vorbei.“ Noah nickte. „Dummerweise hält er da nicht. Dafür ist ein anderer Bus zuständig.“ Ich schnaubte genervt. „Wofür das denn?“ Mein Sitznachbar setzte sich und zuckte mit den Schultern. „Kein Ahnung. Frag das mal den Bus.“ Wir sahen uns an und er hakte neugierig nach: „Du wohnst in der Farmer-Siedlung?“ Ich nickte. „Zwanzig Minuten von hier. Nicht weit. Wenn du willst, kann ich dir sie ja zeigen.“ Kaum war mir der Vorschlag entschlüpft, wandte sich der Lehrer an die Klasse. Es wurde ruhig. Noah nickte mir fröhlich zu und wir blickten zum Whiteboard. Auf das hatte unser Lehrer in schwarzer Schrift „Mr. Nolan“ geschrieben. „So.“, rief er mit einer Stimme, die erahnen ließ, dass der Unterricht nun beginnen würde. „Jetzt sitzen alle an ihren Plätzen.“
Er sah sich um und notierte sich etwas. „Fast alle.“, fügte er hinzu.
Einige mussten kichern. Dann erhob sich Mr. Nolan von seinem Platz. „So. Ich denke, ihr habt alle gelesen, dass ich Mr. Nolan heiße. Ich bin euer Physik-, Geschichts- und Klassenlehrer. Und wir beginnen mit einer Kennlernrunde.“
Hinter mir stöhnten ein paar Jungen entsetzt auf.
Dann forderte Mr. Nolan uns auf, da wir einander noch nicht gut kannten, uns vorzustellen. Kane Miles begann. Wie ich raushörte, waren seine Hobbys Football, Basketball und er hatte einen Hamster namens Anakin. Nacheinander stellten sich auch die anderen vor. Da gab es einen rothaarigen Jungen namens Lars, der gerne surfte und dessen Eltern ein Haus in Schweden hatten. Ein gewisser Ford interessierte sich sehr für Technik, ein braungelockter Junge namens Henry spielte am liebsten auf seiner X-Box und so ging es weiter. Ich konnte mir nicht einmal alle Namen merken, aber selbst, wenn ich es gewollt hätte – die Schilder standen noch auf den Tischen. Noemi spielte Football, was mich überraschte, und Laura erzählte schüchtern, sie hätte schon einmal als Kleinkind in ein paar billigen Werbespots mitgemacht. Die anderen Mädchen hatten allesamt ähnliche Hobbys. Einige machten Sport, spielten Tennis oder zeichneten oder sangen gern. Aber keines von ihnen wohnte auf einer Farm oder spielte Geige oder hatte vier Geschwister. Ich horchte aber auf, als Noah zu erzählen begann. Er strich sich einige Haarsträhnen zur Seite, rückte seinen Stuhl zurecht und erzählte mit ruhiger, weicher Stimme: „Hi, ich bin Noah County, ich bin vierzehn Jahre alt und habe zwei Schwestern und einen großen Bruder namens Robin. Meine Hobbys sind Fahrradfahren, joggen und singen. Außerdem habe ich noch einen kleinen Terrier namens Lucky und …“ Er schien zu überlegen, zuckte dann aber mit den Schultern und nickte. „Ja. Das war’s.“ Mr. Nolan faltete seine Hände zusammen und lächelte. „Danke, Noah. Das klingt ja echt spannend. Hat jemand eine Frage an Noah?“ Er sah sich um. Diese drei Sätze hatte er übrigens schon bei jedem anderen Schüler, der vorher rangekommen war, gesagt. Ich hob den Arm. Mr. Nolan nickte mir zu. „Ja?“ Ich drehte mich zu Noah, der zwei Stühle rechts von mir saß. „Wie heißt du mit zweitem Namen?“
Einige Leute sahen mich verwirrt an. Noah blickte ebenso verwundert. „Sherman.“, erklärte er. Ich nickte, hörte ein paar Mädchen unterdrückt kichern und notierte mir im Kopf seinen Namen. Zufrieden lehnte ich mich zurück und hörte den anderen nur mit halbem Ohr zu, während ich überlegte, was ich sagen sollte? Was war wichtig und was nicht? Was durfte ich sagen und was nicht? Ich überlegte. Die Farm könnte ich erwähnen, Montana, die Pferde, meine Geschwister… und meine Hobbies? Was hatte ich denn für Hobbies? Kochen? Nicht unbedingt. Reiten? Fischen? Ich zuckte zusammen, als Mr. Nolan mich ansprach und die anderen erwartungsvoll zu mir hinsahen. Noemi lächelte mir aufmunternd zu. Ich stellte mich vor, überlegte kurz und sagte dann: „Ich wohne auf einer Farm am Rande der Stadt und habe vier Geschwister. Meine Hobbies sind reiten, Geschichten schreiben und ich kümmere mich gerne um die Tiere auf unserer Farm – besonders um unsere Pferde.“
Nachdem ich geendet hatte, hoben sogleich mehrere Jungen und Mädchen die Arme. Mr. Nolan musste lachen. „Okay. Alle nacheinander.“ Er wandte sich mir zu. „Nimm ran, wen du willst.“
Ich sah mir die Gesichter an und nahm ein Mädchen, das Hannah hieß, ran. Sie fragte: „Wie viele Pferde habt ihr auf der Ranch?“
„Zwölf. Ein paar Mustangs, ein paar Vollblüter und zwei Shetlands.“, erklärte ich.
„Und habt ihr noch andere Tiere außer Pferde?“, fragte Kane neugierig.
Ich grinste ein wenig stolz. „Wir haben noch Schafe, eine Katze, Kühe und Montana, unseren Hund.“ Die Schüler begannen bewundernd und aufgeregt untereinander zu tuscheln. Noemi zwinkerte mir zu, als wollte sie sagen: In der Beliebtheitsskala steigst du gerade schnell nach oben. Ich blinzelte zurück, freute mich insgeheim, dass sie sich mir gegenüber so freundlich verhielt. Hoffentlich. Nacheinander stellten noch einige ihre Fragen, dann stellte sich der nächste vor und so ging es weiter. Anschließend sagte Mr. Nolan: „Holt bitte euren Geschichtshefter heraus, wenn ihr einen habt. Wir beginnen mit natürlich mit Amerikanischer Geschichte.“ Mr. Nolan begann an die Tafel zu schreiben, während er unser Grundwissen mit Informationen über den Unabhängigkeitskrieg um 1777 herum auffrischte. Derweil notierte ich eifrig auf meinem Blatt die nötigen Daten, schielte ich ab und an zu Noah hinüber und versuchte zu erhaschen, was er schrieb. Das war nicht schwer, denn er legte keinen Wert darauf sein Blatt abzudecken und hatte eine außergewöhnlich schöne und gut leserliche Handschrift. Noah bemerkte meinen Blick und lächelte freundlich, richtete dann aber seinen Blick wieder zur Tafel. Unser Lehrer erzählte uns von den Folgen des Unabhängigkeitskrieges, vom Leben George Washington’s, von dem ersten politischen Regierungssystem der USA und den ursprünglichen dreizehn Kolonien.
Das meiste davon hatte ich mehr oder weniger in der Elementary kennengelernt, aber es gab auch Dinge, von denen ich noch nicht gehört hatte. Zum Beispiel vom “Reynolds Pamphlet”, das Alexander Hamilton, der erste Finanzminister unseres Landes verfasste, indem er seine Affäre mit Maria Reynolds gestand, und das als erster Sex-Skandal bekannt wurde. Er erzälte von John Laurens, einem engen Freund Hamiltons, der sich stark gegen die Sklaverei aussprach und versuchte das erste “schwarze Batallion” aufzustellen. Ich hörte von Aaron Burr, dem Vizepräsidenten von Thomas Jefferson, der der dritte Präsident der Vereinigten Staaten gewesen war, und von John Adams, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Am Ende der Geschichtsstunde wurden die Terminplaner hervorgeholt und uns wurden von Mr. Nolan die nächsten Termine angesagt. Er erklärte uns, in wie viele Kurse wir uns eintragen sollten, wie lang die Pausen gingen, wo sich die Cafeteria befand und was für Kurse man auch in den Pausen machen konnte. Er erzählte uns, dass der ganze Jahrgang eine Kennenlernfahrt machen würde in drei Tagen. Dazu gab er uns ein Packliste. Als nächstes sagte er: “Jeden Morgen werden wir uns hier im Homeroom treffen. Ich werde schauen, ob alle da sind. Anschließend geht es in eure Kurse. Wer Geschichte hat, kann gleich im Raum bleiben.” Ich nickte.
Das kannte ich von der Junior High. Jeder Lehrer hatte seinen Raum und wir Schüler mussten einfach nur von Raum zu Raum wechseln. Mr. Nolan erklärte uns, dass es vier Kurse pro Semester gäbe, und man eine bestimmte Anzahl an Kursen am Ende des Jahres gemacht haben musste, um nicht zu wiederholen.
Dann gab er uns ein Anmeldeformular für die verschiedenen Kreativ-Kurse.
Einen Stundenplan hatte ich bereits bekommen. Mom hatte ihn mit mir zusammen gemacht und ich hatte ihn in Papierform in meinem Rucksack.
Ich schaute mir das Anmeldeformular durch und stellte fest, dass es viele interessante Kurse gab.
Den Schauspielkurs, der jedes Jahr eine Theateraufführung machte, den Schreibkurs, in dem man sogar ein richtiges anerkanntes Zertifikat erhalten konnte oder die Chance hatte in bekannten Verlagen aufgenommen zu werden. Dummerweise liefen beide Kurse zur selben und nicht zu den unterschiedlichen Zeiten. Nach längerem Überlegen entschied ich mich für den Schreibkurs, der, wie die meisten Kreativ-Kurse, in der Mittagspause stattfinden würde. Doch nachdem ich angekreuzt hatte,überkamen mich Zweifel.
Mom hatte mich für’s Mittagessen angemeldet, das ich nicht einfach ausfallen lassen konnte. Ich sah mir das Blatt genauer an und entdeckte, dass der Schreibkurs entweder Montag und Mittwoch in der Mittagspause oder Dienstag und Donnerstag nach der letzten Stunde sein würde. Jeden Tag hatten wir vier Kurse und jeder Kurs war eineinhalb Stunden lang. Nichts Neues. Ein weiteres Blatt besagte, dass es eine gewisse Anzahl an Kursen gab, die wir gegen Ende des Schuljahres pflichtig abgearbeitet haben mussten, aber das hatte ich bereits mit Mom alles auf der Schulwebsite gelesen. Und genau wie in der Junior High gab es zwei Lunchpausen und ich hoffte sehr, dass ich die Pause mit Rachel verbringen würde.