Prolog

Prolog

4. November 2022 Roman 0

Der Geruch von Rauch stieg Jill in die Nase.
Die kleinen Flammen züngelten.
Rote Kerzen steckten im Mamorkuchen.
Sie zählte durch. 14 Kerzen. Perfekt.
Genauso perfekt wie ihre Welt. Jill schloss die Augen, holte Luft, blähte die Wangen auf und pustete. Klatschen erklang und jemand spielte einen Tusch auf der dunklen Holz-Gitarre mit den Stahlsaiten. Sie öffnete die Augen und lächelte zufrieden.
Die Flammen wehrten sich anfangs, züngelten und lösten sich auf. Mehr Rauch stieg auf, der Wachs rann die Kerzen hinunter und verteilte sich auf dem Kuchen. „Happy Birthday to you.“, stimmten die anderen an. Mom kniete sich auf die Dielen des Holzbodens im Wohnzimmer und zerschnitt mit einem blank geputzten Messer den Mamorkuchen. „Das erste Stück für unser Geburtstagskind.“, rief sie und lächelte Jill zu. Auf einem blauen Keramikteller reichte sie ihr das Stück braun-weißen Mamorkuchen. „Wusstet ihr, dass durch das Pusten der Kerzen auf einem Geburtstagskuchen bewirkt, dass die Anzahl der Bakterien auf 1.400 Prozent ansteigt?“, rief Jack und hängte sich seine schwarzen Kopfhörer um den Hals.
Dad zupfte ein paar Akkorde auf der Gitarre und warf Jills 14-jährigen Bruder einen warnenden Blick zu. „Das hätte echt nicht sein müssen, Jack.“, mahnte er streng. Im selben Augenblick rief Veronica: „Iiih.“ und verzog angewidert das Gesicht. „Und damit rückst du erst jetzt raus?“
Sie strafte Jack mit anklagenden Blicken.
Der zuckte nur mit den Schultern. „Hab ich erst kürzlich nachgelesen.“
Mom reichte meiner kleinen Schwester einen Teller mit einem Stück Kuchen. „Komm, das kleine Stück kannst du essen.“ Misstrauisch untersuchte Veronica das braun-weiße Mamorkuchenstück nach Spucktropfen bis sie schließlich eine Gabel in die Hand nahm und sich langsam ein Stück in den Mund.
Jill grinste ihre Geschwister an.
„Pack die Geschenke aus!“, forderte Beth neugierig. Überfordert blickte das Mädchen auf den großen Geschenkehaufen. Jack, der anscheinend seinen Satz von eben ganz vergessen hatte, aß ein Kuchenstück nach dem anderen. Jill blickte von Mom, zum großen Fenster durch das die Sonne fiel und zu Dad. „Die Sonne scheint so schön, da fände ich es schön, wenn wir draußen die Geschenke auspacken. Außerdem müssen es ja nicht alle auf einmal sein.“, schlug sie vor. Jack stöhnte entsetzt auf, wobei er ein paar Krümel aus seinem Mund auf den Fußboden verteilte, Veronica sprang auf und nahm wahllos vier Geschenke als seien es ihre, Mom nickte und Dad, Beth und Layton waren bereits auf dem Weg nach draußen.
Sie setzten sich auf die Veranda, Dad auf die hölzerne Treppenstufe, Mom in den Korbstuhl und die anderen verteilten sich auf den hölzernen Dielen. Von hier aus hatte Jill einen guten Blick auf die Äcker, Felder und Wiesen und die dahinter ansteigenden Hügel. Sie hörte die Schafe blöken, die Pferde auf der Weide wiehern und sah Montana, den Australian-Sheperd herbeirennen. Aufgeregt bellend schoss er über die Wiese zur Veranda und sprang über die breiten Treppenstufen zu der Familie hin. Sofort kraulte Jack ihn hinter den Ohren und Montana leckte ihm übers Gesicht. „Montana!“, rief Mom, doch Jack kümmerte das nicht im Geringsten.
Mit gespannter Erwartung auf Jills Reaktionen blickten Beth, Layton, Veronica und Jack zu ihr und sie riss das rote Geschenkpapier eines kleinen viereckigen Geschenks entzwei. Triumphierend hielt sie ein Paar Kopfhörer wie Jack welche hatte in die Höhe. „Dachte ich’s mir doch!“, rief sie begeistert und warf Jack einen dankbaren Blick zu. „Meine Idee.“, verkündete er stolz. „Die hab ich mir gewünscht!“, sagte sie glücklich und öffnete das nächste Geschenk. Es war ein Geschenk von Beth, ein Kompass. Jill musste lachen, als sie ihn sah. Er war alt und hatte einen Riss im Glas und ein Teil der roten Nadel war abgebrochen.
„Wo hast du den denn her?“, kicherte sie und betrachtete amüsiert den Kompass. Mom begutachtete das alte Teil. „Dafür dass du zwei Jahre älter bist als ich hast du ganz schön wenig Verstand.“, bemerkte Jack trocken. „Ihr so etwas zu schenken.“
Beth lachte. „Wenn sie sich freut.“
Jill umarmte ihre große Schwester kurz. „Ich freue mich.“, stimmte sie zu.
Dad hatte aufgehört zu zupfen und stand auf. „Ich bring die Pferde rein.“
Er pfiff einmal kurz und schon sprang Montana auf und folgte seinem Herrchen. Layton kam ebenfalls mit. Er wollte nach den Schafen schauen. Und Beth wollte ihm dabei helfen.
Das Geburtstagskind sah den dreien nach. Beth in ihrem Jeans-Overall, ihre walnussbraunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Layton in blauer Jeans, mit einer Kuhlederweste und einem Cowboyhut auf dem Kopf wirkte ganz wie ein Cowboy aus einem alten Western. Und Dad trug fast dasselbe Outfit nur mit einem dunklen Ledergürtel und nietenbeschlagenen Stiefeln. Aber mit ihrem Kleidungstil waren sie allein in der Familie, denn Veronica, Jack, Mom und Jill bevorzugten Nikes oder Chucks und etwas modernere Kleidingsstile.
Beth und Layton machte es nichts aus, dass sie auf eine Highschool des 21. Jahrhunderts gingen, denn sie trugen diese Art von Klamotten sogar im Unterricht. Ihre Klassenkameraden fanden das zwar merkwürdig, aber sagten nichts dazu und sogar Jill hatte viel Gefallen an diesen Western-Klamotten, wobei sie solche Kleidungsstücke niemals im Unterricht getragen hätte.
„So. Lasst uns die restlichen Geschenke auspacken.“, schlug Mom vor.
Jill jauchzte glücklich und sprang auf. Jack und Veronica folgten ihr.

Der Himmel war nachtblau. Wolkenfetzen zogen über ihn und versteckten den blassweißen Mond ab und an hinter einer weichen, halbdurchsichtigen Decke. Das Feuer im Kamin knisterte und warf flimmernde, dunkle Schatten auf den Holzboden. In dem alten grünen Sessel in der Ecke neben dem Fenster saß Mom und las ein Buch, eine Leselampe leuchtete neben ihr. Dad war bereits ins Bett gegangen und hatte Veronica in ihr Zimmer gebracht. Layton verabschiedete sich gerade von seinen Geschwistern und wandte sich noch an seine kleine Schwester: „Morgen wollten wir doch zum See und dort unser Kanu testen.“
Mit leuchtenden Augen nickte sie. „Klar. Unbedingt.“ Jack blickte von seinem Tablet hoch. „Ich komme mit.“, beschloss er.
Layton nickte, doch Beth warf ein: „Im Kanu ist nur Platz für maximal drei Personen, außerdem ist es noch nicht sicher, wie viele es aushält und ob es überhaupt schwimmt.“
Sie blickte zu Jill. „Wir haben beschlossen, dass die drei Erbauer zuerst fahren.“ Jack verzog beleidigt den Mund und wollte protestieren, da ging Mom dazwischen. „Ihr braucht Schwimmwesten und die haben wir nicht.“
„Ich hab mir gestern welche vom alten McKanzie besorgt.“, berichtete Beth, stolz auf ihre Vorbereitung. Layton grinste zufrieden, doch Mom runzelte die Stirn. „Von dem Alten, der allein auf seiner Farm am Dorfrand lebt? Ich hab doch gesagt, du sollst nicht zu ihm.“
Beth zuckte mit den Schultern. „Wir leben auch in einer Farm am Dorfrand. Außerdem hab ich sie zusammen mit Layton geholt.“
Sie und ihr achtzehnjähriger Bruder wechselten einen zufriedenen Blick. „Und es sind drei Schwimmwesten.“, betonte Layton siegessicher.
Jack legte das Tablet beiseite. „Aber ihr habt mir versprochen, dass ich mitfahren darf.“
„Natürlich darfst du mitfahren.“, beschwichtigte Beth ihn schnell, als sie sich einen missbilligenden Blick von Mom eingefangen hatte. „Ihr müsst euch eben abwechseln.“
„Was heißt hier ihr?“, schaltete Jill sich empört ein.
„Du und Jack. Layton und ich müssen auf jeden Fall mit ins Boot. Wir sind am erfahrensten und steuern es.“, legte Beth fest. Ihre jüngere Schwester seufzte verärgert, sagte aber nichts. Du müsstest nicht mit. Ich kann deinen Platz genauso gut ersetzen. Sie hatte in den letzten Wochen gut genug Kanufahren gelernt und an ihrem gemeinsamen Kanu gebaut, dass sie sicher war, selbst eines lenken zu können. Aber Beth war nicht dieser Meinung und so fügte Jill sich dem Urteil ihrer großen Schwester.
„Lasst Veronica aber nichts davon hören.“ Mom sah die Geschwister nacheinander fest an. „Ich will nicht, dass sie mir die Ohren vollquengelt oder euch am Ende was passiert.“ Die nickten fest, besonders Layton. Da er der Älteste von ihnen war übernahm er oft die Rolle des Vaters und Anführers unter den Geschwistern. Jack schaltete sein Tablet aus und verabschiedete sich. Jill hörte wie die Stufen der Diele knarzten, als er nach oben ging. Sein Tablet hatte er dagelassen. Layton starrte wieder in den Schein des lodernden Feuers. Beth flicht sich neue Zöpfe und legte ihren Strohhut in den Flur auf das Regal zurück. Dann verabschiedete sie sich ebenfalls und verschwand durch die Diele und mit knarzenden Schritten nach oben. Mom legte ihr Buch beiseite und sah Jill lächelnd an. Ihre Augen leuchteten hell im Schein des Feuers.
„Und wie war der Tag für dich heute? Was hast du noch gemacht außer Geige spielen und Geschenke auspacken?“, fragte sie freundlich.
Das Mädchen lächelte. „Layton war mit mir Fische fangen und wir haben sogar einen Grizzly gesehen.“
Mom riss erstaunt die Augen auf. „Echt? Und das erzählst du mir erst jetzt? Wo denn?“ Sie hatte ziemlich Angst vor Bären, was ja nicht verwunderlich war, denn die Viecher waren wirklich furchtbar groß und schnell.
Jill grinste stolz in Erinnerung an heute Morgen.
„Es war noch früh am Morgen gewesen. Layton ist mit mir, als Geburtstagsgeschenk, sozusagen, zum See gegangen und dort haben wir Fische geangelt. Aber wir haben sie immer wieder in den See zurückgeworfen. Ich wollte sie nicht sterben lassen. Auf der anderen Seite des Sees tauchte dann plötzlich aus dem Wald ein Bär auf. Ein Grizzly. Layton hat ihn als erster gesehen und wir haben unsere Angeln genommen und uns davongeschlichen.“
Mom sah sie entsetzt an. „Ihr hättet sterben können.“
Ihr Gegenüber machte eine wegwerfende Geste. „Die Engel haben auf uns aufgepasst.“
Mom verdrehte halb belustigt, halb ärgerlich die Augen und seufzte.
Dann gab sie ihrer Tochter einen Klaps auf die Schulter. „Ab ins Bett mit dir, Bärenjäger und Fischetöter.“, lachte sie und drückte Jill noch einen abschließenden Kuss auf die Wange.
Sie kicherte, hopste davon, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer unterm Dach. Der Mond schien durch das Dachfenster und sie hörte eine Nachtigall singen und in weiter Ferne einen Koyoten heulen.
Zufrieden legte sie ihre Klamotten auf einen Stuhl und zog sich ihren Pyjama an. Dann kuschelte sie sich in ihr Bett, dass direkt neben dem wärmenden Kamin und einem Dachfenster lag.
Sie schloss die Augen und glaubte, sie lächelte noch während sie in den Schlaf sank.

***

Jill schlug die Augen auf. Sie spürte, dass heute irgendetwas Besonderes sein würde. Nur was? Mit einem herzhaften Gähnen setzte sie sich im Bett auf und blickte hinaus aus dem Fenster auf die weiten Wiesen und schaute der Sonne zu wie sie ihre rötlich-goldenen Strahlen über das Land sandte, während sie den zerklüfteten Berg am Rand des Grundstücks erklomm. Angestrengt dachte sie nach. Ihr Geburtstag war gestern gewesen und Grannie und Poppy würden sie erst am Montag besuchen. Da fiel es ihr wieder ein und sie sprang voller Lebensfreude aus dem Bett. Beth, Layton, Jack und sie würden Kanu fahren. Auf dem See. Und sollte das Kanu halten, würden sie bis zur Insel fahren, das hatte Layton gestern Morgen versprochen. Aufgeregt und es kaum abwartend schnappte Jill sich ihre Kleider vom Stuhl und zog sich an. Nur die feine Bluse tauschte sie gegen ein abgenutztes T-Shirt.
Nachdem sie sich angezogen hatte, warf sie einen Blick auf meinen Wecker. 9 Uhr 30. Höchste Zeit für die Morgen-Wecker-Routine, die sie an Samstagen immer auf ebenjene Zeit verschoben. Zeit, um Jack und Veronica zu wecken. Beth, Layton und Dad waren mit Sicherheit schon seit mehreren Stunden auf, um die Kühe zu melken, die Pferde und Schafe auf die Weide zu bringen und die Ställe zu säubern. Jill nahm ihre Geige, die sie mit einem Seidenband an den Nagel, der in einem Dachbalken steckte, gehängt hatte und schlich die Treppe nach unten. Leider konnte sie nicht verhindern, dass ihre Schritte knarzten. Dennoch versuchte sie so leise wie möglich bis zu Jacks Zimmertür zu schleichen, um sie ebenso leise zu öffnen und dann eifrig zu „Oh Susanna“ anzustimmen. Ab und zu griff sie die falschen Töne und einmal rutschte ihr der Bogen aus, aber sie fiedelte eifrig. Jack wurde augenblicklich wach und warf die Decke weg. Dann starrte er Jill entgeistert an. „Spinnst du?“, schrie er. Mit ihrer Geige unterm Kinn konnte sie schlecht lachen, aber ein Schmunzeln drang trotzdem auf ihre Lippen. Ganz eifrig fiedelte Jill und ging von seinem Zimmer zu Veronicas und von ihrem zu Moms. Jeder hier im Haus wusste, dass die Geige ein Zeichen war, dass man aufzustehen hatte und sogar Jack, der mich gerade noch angeschrien hatte, erschien fünfzehn Minuten später frisch gewaschen, angezogen und fertig für den Tag am bereits gedeckten Frühstückstisch.
Beth kochte gerade Kaffee und Layton briet Speck und Spiegeleier. Dad tauchte im Türrahmen auf mit gezücktem Revolver. Jill war fiedelnd die Treppe hinunter gelaufen und fiedelte immer noch und Dad richtete seine Pistole auf sie, die natürlich nicht geladen war und drückte ab. „Pow!“, rief er und Jill sank mit einem letzten dramatischen Geigenstrich auf das Sofa. Da sprang wie aus dem Nichts Montana herein und jaulte. Sofort war Jill wieder auf den Beinen und spielte munter „Coppertop“ und Dad nahm die Mundharmonika und seine Gitarre und spielte mit.
Montana beruhigte sich wieder, legte sich auf den Teppich im Esszimmer und hörte schweigend zu, während Layton, Beth und Jack die Speisen hereintrugen. Mom war das alles anscheinend zu viel, denn sie stürmte ins Esszimmer, riss Dad die Mundharmonika aus dem Mund, nahm Jill ihren Bogen weg und legte beides auf den alten, kleinen Schrank neben dem Fenster. Montana legte seinen Kopf schräg.
„Sei nicht so eine Spielverderberin, Alice.“, bat Dad, der sehr gerne Musik machte.
„Ich bin keine Spielverderberin, aber gleich morgens so einen Radau – das halte ich nicht aus!“ Wild gestikulierend, setzte Mom sich an den reich gedeckten Tisch und faltete die Hände. Die anderen taten es ihr gleich. Mom seufzte einmal tief und sprach mit beruhigter Stimme: „Danke Herr, für dieses Essen.“
Die anderen schwiegen kurz und sahen sich an. Dad nahm die in ledergebundene Bibel vom Regal und schlug sie auf. Er las ein paar Verse aus dem Johannesevangelium, dann klappte er das alte Buch zu, alle sagten: „Amen.“ und griffen zu. Während des Essens sprach Dad mit Layton darüber, dass er ihm bei der Geburt eines Kalbes helfen müsse. Layton erklärte sich gerne bereit zu helfen, meinte nur, dass er sich die Zeiten zwischen 12 und 15 Uhr freihalten wollte. Jill nickte ihm kurz zu. Das Kanu-fahren wollten sie geheim halten.
Leider fiel Veronica sofort auf, dass etwas nicht stimmte, normalerweise waren die älteren Geschwister nie so schweigsam. Sie holte schon Luft und wollte sich beschweren, da sagte Mom schnell: „Nicky, du kannst mir heute beim Mittagessen-Kochen helfen. Außerdem muss der geerntete Mais geputzt werden. Dabei bräuchte ich deine Hilfe.“ Doch Veronica ließ sich nicht so leicht abschütteln. „Mais-Putzen ist langweilig, außerdem können Beth und die anderen auch mithelfen.“, knurrte sie beleidigt.
Layton griff nach Nickys Hand. Er lächelte sie freundlich an und sagte: „Wenn du möchtest, machen wir anschließend einen Ausritt auf Starlight.“ Starlight war der schönste Mustang in der Zucht.
Veronica schüttelte ihre blonden Haare und strahlte ihren großen Bruder freudig an. „In Ordnung.“
Unwillkürlich stieß Jill erleichtert ihren angehaltenen Atem aus.
Veronica sollte bloß nichts erfahren. Okay, vielleicht reagierte sie ziemlich über, aber sie hatten Mom versprochen ihre jüngste Schwester da rauszuhalten. Wenn sie erfuhr, dass die Großen Kanu fahren würden, während sie auf der Veranda Mais putzte, würde sie ihnen die Ohren vollheulen und so lange betteln, bis sie ihren Willen bekam. Und diesmal würde Mom hart bleiben. Das konnte aber wiederum dazu führen, dass Veronica so weit ging, dass sie etwas auf eigene Faust unternahm.

Einmal hatte sie, als Jack und Jill mit Layton Kojoten schießen waren, sich die Pistole aus Dads Nachtschrank genommen und war ihnen gefolgt.
Layton war gerade dabei gewesen einen Kojoten ins Visier zu nehmen, da hatten sie einen lauten Knall direkt hinter ihnen gehört und eine Kugel war haarscharf über ihre Köpfe hinweg geflogen. Der Kojote war geflüchtet, sie hatten sich total schockiert umgedreht und eine grinsende Veronica hinter ihnen gesehen. Layton hatte furchtbar mit ihr geschimpft und Dad später mit Layton.
Dad war sauer geworden und meinte, genau wie Layton, dass Veronica Jack oder Jill hätte treffen können und was sie sich nur dabei gedacht hatte, auf eigene Faust loszuziehen.
Auf jeden Fall hatten die Kinder ab dem Tag beschlossen Veronica nicht mehr mit zu den gefährlicheren Ausflügen zu nehmen, was diese furchtbar ungerecht fand und sich vernachlässigt fühlte.
Jill konnte es nachvollziehen, aber sie konnten ihr nicht wirklich trauen und wussten nicht, ob sie nicht plötzlich ins Wasser fallen oder einen Berg hinunterstürzen würde. Veronica war für ihr Alter noch ziemlich ungeschickt.
Die älteren Geschwister hatten sie dennoch schrecklich gern, versuchten aber sie aus allen möglichen Gefahren rauszuhalten.

Nach dem Essen nahm Jill ihre Geige mit nach oben und zog sich eine feste Jeans und eine Jacke an. Layton und Beth halfen Dad noch beim Einpflanzen und Ernten von Möhren und Kartoffeln, während Jack und Jill in den Schuppen gingen, um das Kanu auf den Jeep zu stellen. Sie verstauten es unter einer Plane und machten sich zum Acker hinter den Pferdeställen auf. Dort waren Beth und Layton gerade beschäftigt gemeinsam eine Kartoffelpflanze aus der Erde zu ziehen. „Helft mal.“, rief Layton angestrengt. Zu viert gruben sie die Pflanze aus und warfen die mit Erde bedeckten Kartoffeln in einen Holzkorb.
„Die kann Mom später abputzen.“, beschloss Jack, doch Beth hielt ihn am Arm fest. „So viel Zeit bleibt uns noch.“
Also holten die Kinder sich Bürsten aus dem Schuppen und putzten die Kartoffeln bis von Dreck keine Spur mehr war.
Da spürte Jill einen Regentropfen auf der Nase und sah eine dunkle, schwere Wolkenwand auf sie alle zu rasen. „Oh nein!“, rief das Mädchen und stampfte frustriert mit dem Fuß auf den Ackerboden. „Kommt.“, beeilte sich Layton zu sagen. Er nahm den Korb in die Hand und sie rannten Richtung Farmhaus, ehe der Regen sie eingeholt hatte. Mit einem Donnern prasselte der Regen auf die Erde nieder und die Kinder huschten durch die Tür ins Wohnzimmer. Dort putzten und kochten Mom und Veronica in aller Seelenruhe und sangen „Row, Row, Row your boat“.
„Wo ist denn euer Vater?“, fragte Mom. Die Kinder blickten einander irritiert an und dann nach draußen, wo ein triefnasser Dad über die Wiese auf’s Haus zugerannt kam, aber nicht, um zu bleiben, sondern um Layton „Das Kalb kommt!“ zuzurufen und wieder in den Regen zu rennen. Layton folgte ihm. Und auch die Neugier von den Verbliebenden siegte über die Regenfurcht, sie zogen sich Jacken und Gummistiefel an und folgten Layton und Dad. Innerlich war Jill zwar noch ein bisschen frustriert über die verpatzte Kanufahrt, aber zu sehen, wie ein Kalb geboren wird, wollte sie nicht verpassen.

Im Stall war es warm und es roch nach Heu und Milch. Die Kühe muhten und ab und zu hörten man ein Stampfen. In einer abgesonderten Box stand Millie, eine braun gescheckte Kuh, und muhte laut. Jill, Veronica, Beth und Mom setzten sich in die Nähe der Box und schauten zu.
Dann kam das Kalb. Erst der Kopf, dann die Vorderbeine, dann die Hinterbeine und mit einem Plumps fiel das Neugeborene ins Stroh. Layton rieb es sofort mit einem Handtuch ab und zwickte es in die Nasenscheidewand, um den Kreislauf und die Atmung anzuregen. Dad durchtrennte die Nabelschnur, entsorgte die Geburtsreste und gab der Kuh Wasser und Heu.
„Jetzt brauchen die zwei erstmal Ruhe.“, entschloss Dad und schickte die Zuschauer raus.
Bei den anderen Boxen kam Mom eine grandiose Idee. „Wie wäre es, wenn wir uns auf den Heuboden im Pferdestall setzen, mit Büchern, heißem Kakao und Decken. Wir machen uns einen gemütlichen Tag. Na, was sagt ihr?“
Die Kinder sagten nichts, sie jubelten.
Alle außer Jack, der fragte: „Kann ich mein Handy mitnehmen?“
Doch Mom sagte sofort, dies sei ein handyfreier Tag.
Auf dem Weg zum Haus meinte Beth zu Jill: „Das entschädigt unsere ins Wasser gefallene Kanufahrt.“
Jill lächelte, wischte sich ein paar Regentropfen aus dem Gesicht und nickte. Im Haus holte sie sich die Bücher „Inkheart“, „The selected Works of T.S. Spivet“ und die sieben Bände der Narnia-Reihe. Mama kochte heißen Kakao und holte die noch übriggebliebenen Muffins aus dem Vorratsregal. Beth und Veronica nahmen sich ebenfalls Bücher mit. Sogar Jack nahm sich Bücher mit, das heißt: Es waren Comics. Aber immerhin besser als sein Handy.

Auf dem Heuboden breiteten die Kinder eine alte Decke aus, kuschelten sich ins Stroh und lasen, während der Regen auf’s Dach trommelte. Durch den Regentrommeln konnte sich Jill den Ablauf des ersten Kapitels aus „Tintenherz“ umso lebhafter vorstellen. Nach einer Weile wurde es Jack langweilig und er schlug vor: „Lasst uns ein Spiel spielen.“
„Au ja.“, jubelte Veronica und meinte gleich: „Wahrheit oder Pflicht.“
„Ohne Pflicht gerne.“, fügte Jill schnell hinzu. „Und der Fragende darf drei Fragen stellen.“ Damit waren alle einverstanden.
Veronica fing an und wandte sich an Jill: „Lieblingsessen?“
„Corn Dogs und French Fries.“
„Dein größter Fehler?“, fragte sie neugierig.
„Dir zu vertrauen.“, sagte Jill trocken, worauf alle in Lachen ausbrachen.
„Nur ein Scherz.“, fügte das ältere Mädchen schnell hinzu. Veronica schmunzelte.
Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, fragte sie: „Was würdest du tun, wenn du noch einen Tag zu leben hättest?“
Jill schwieg einen Augenblick und dachte nach. Nach einer Weile sagte sie: „Mich von euch verabschieden und alles, was ich habe verschenken oder verkaufen.“
Jack sah seine Schwester an. „Langweilig.“, kommentierte er trocken.
„Hast du eine bessere Idee?“, wandte sie sich böse an ihn.
Er zuckte nur mit den Schultern.

Im Laufe des Tages kam die Sonne wieder raus und die Kinder nahmen ihre Schwimmwesten und fuhren mit dem Jeep zum See, wo sie das Kanu zu Wasser ließen, das übrigens sehr gut schwamm. Sie paddelten bis zur Insel und zurück. Diese Insel lag ungefähr in der Mitte des Sees und war sehr groß.
Die Insel war hügelig und an manchen Teilen sehr steil, aber es gab eine Höhle und viele Tannen dort und die Kinder spielten, dass sie auf einer geheimen Mission waren und die Höhle erforschen wollten, weil dort Steinzeitmalereien waren, was natürlich ausgedacht war.

Da sie sowieso nur Platz für drei hatten, paddelten Beth, Layton und Jill zur Insel, setzten Jill ab und kamen mit Jack zurück. Dann beschlossen sie abwechselnd zum anderen Ufer zu paddeln und den Proviant stückweise zu holen, während der andere Teil der Gruppe die Höhle währenddessen erforschte.
Nachdem sie allen Proviant hergeholt hatten, sammelten sie Feuerholz und zündeten ein Feuer in der Höhle an. Und dann brieten sie ihre mitgebrachten Marshmallows an langen, dünnen Stöcken. Anschließend teilten sie sich in zwei Gruppen auf. Layton und Jill bewachten ihr Zuhause, die Höhle, und Beth und Jack spielten, dass sie ein feindlicher Stamm wären, die Nahrung stehlen wollten. Jill und Jack nutzten ihre Stöcke als Schwerter und kämpften hart gegeneinander.
Natürlich durften sie nicht nur in der Höhle bleiben, die Spielregeln besagten, dass einer von ihnen beiden immer mal wieder auf die Suche nach den gegnerischen Stammesmitgliedern gehen musste.
Während Jill auf der Suche nach den Feinden war, fand sie eine Lichtung voller Brombeeren und Walderdbeeren. Aufgeregt rannte sie zurück zur Höhle und berichtete Layton von ihrem Fund. Er folgte ihr zur Lichtung und sie füllten zwei kleine Eimer mit den Beeren.

Als sie zurückkamen, hatten Jack und Beth es sich in ihrer Höhle vor dem Feuer gemütlich gemacht und aßen gerade die Sandwiches auf. Ohne sich um ihren Raub zu kümmern, zeigten Layton und Jill ihnen die Beeren und gaben ihnen einen Teil ab. Dann beendeten sie das Spiel und gingen gemeinsam zur Lichtung.
Sie aßen fast nichts und sammelten so viele Beeren wie in ihre Brotboxen, Eimer und leergetrunkenen Flaschen passte.
Dann paddelte Layton mit dem Kanu voller Beeren zurück, verstaute sie in den Jeep und holte seine Geschwister von der Insel ab. Jill nahm er als letztes ins Boot. Es wurde bereits dunkel und der Mond ging auf. Gemeinsam fuhren sie die staubige Landstraße entlang zum Dorf zurück, während sie gemeinsam sangen „I want it that way“, Layton rief immer wieder: „Tell me why!“ und klopfte passend im Takt aufs Lenkrad.

Zufrieden und erschöpft kamen die Kinder auf der Farm an. Es war schon spät und Veronica war bereits ins Bett gegangen. Mom und Dad unterhielten sich gerade in der Küche. Fröhlich sahen sie ihre Kinder an.
„Das ist ja super. So lange wart ihr weg!“, rief Mom.
„Wie lange denn?“, fragte Layton und sie stellten ihre Eimer und Boxen voller Beeren ab.
„Unglaublich!“, staunte Mom. „So viele Beeren. Wo habt ihr die denn alle her?“
„Von der Insel.“ Jill rang erschöpft nach Luft.
Mom strahlte. „Klasse. Dann kann ich massenhaft Marmelade machen!“, freute sie sich. Layton lächelte. „Haben wir gern gepflückt.“
„Da weiß man wenigstens, dass sie weder mit chemischen Stoffen vollgepumpt noch zu zwanzig Prozent aus Plastik bestehen.“, kommentierte Jack, was Jill zum Lachen brachte.
„Dann geht mal schnell ins Bett, morgen ist Erntetag.“, sagte Mom.
Jack seufzte. „Muss das sein?“
Mom grinste. „Ja, es muss. Heute hat es so heftig geregnet und wir wollen doch nicht, dass uns das schöne Gemüse verfault.“
Jack seufzte erneut.

Die Kinder legten ihre Jacken ab und zogen ihre Stiefel aus. Gerade schleppten sie sich die Treppe hoch – wie gesagt, sie waren wirklich, wirklich fertig – da rief Mom: „Ach, bevor ich es vergesse. Grannie und Poppy kommen morgen. Und ich hab schon die zwei Gästebetten in deinem Zimmer hergerichtet.“
Sie sah Jill an. Die seufzte qualvoll. „Muss das sein? Können die nicht mal in Jacks Zimmer schlafen?“
Jack riss empört die Augen auf. „Na hör mal…“, wollte er sich schon ereifern, da kam ihm Mom zuvor.
„Du hast den ganzen Dachboden für dich und Jack nur sein Zimmer.“ Jill seufzte. Sie mochte Grannie zwar, weil sie ihr quasi jeden Wunsch von den Augen ablas und Poppy war auch nett, wenn es nicht gerade regnete oder jemand ihn beim Lesen störte, aber insgesamt waren die Großeltern anstrengend.
Zumindest empfand sie das so.
Sie drängten sich gerne auf und hatten ungefähr die Einfühlsamkeit einer Dampflokomotive. Jill seufzte erneut.
Was hatte es für einen Sinn zu widersprechen? Sie dachte sich, sie könnte ja die alte Trennwand wieder hervorholen und aufstellen. Und nachts könnte ich mir Ohrenstöpsel in die Ohren stecken, um Poppys Geschnarche nicht ertragen zu müssen., überlegte das Mädchen. Außerdem würden sie ja nur zwei Tage bleiben. So schlimm konnte es nicht werden. Um sich abzulenken, dachte Jill an die Zeit nach deren Besuch.
Sie freute mich schon auf weitere schöne Wochen hier und im Dorf. Rachel würde sie auch bald besuchen kommen. Oder spätestens würden sie sich in der Junior-High wiedersehen. Ihr stockte der Atem, als sie daran dachte. Natürlich nicht! Ende Sommer würde sie auf die High-School gehen. Ihr fiel es siedend heiß ein. Die High-School. Ein völlig neues Leben. Neue Leute, neues Image, neue Umgebung. Sie würde nicht mehr auf die Junior-High hier in der Nähe gehen, sondern ab sofort mit dem Bus in die Stadt fahren oder mit Beth und Jack zusammen.
Und Layton würde auf’s College gehen. Jill holte Luft und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Wow. Wenn sie daran dachte, wie weit Layton schon war. Und Beth würde nächstes Jahr ihren High-School-Abschluss machen. Oh man.
In Jills Bauch kribbelte es. Glücklicherweise würde Rachel auch auf dieselbe High gehen wie sie. Erleichtert stieß sie ihren Atem aus.
Mit einem letzten Seufzer nickte sie zustimmend und lief die Treppe hinauf auf den Dachboden.
Noch wusste Jill damals nicht, dass dieser Abschnitt die größte Wendung ihres Lebens mit sich bringen würde.

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