4. Kapitel: Mittagspause
Eigentlich hätte ich gewarnt sein sollen, dass es, nach der Sportstunde nicht besser werden würde. Mrs. Samantha hatte uns zehn Minuten Volleyball spielen lassen und uns dann eine halbe Stunde um den Footballplatz laufen lassen, ohne Pause. Nein, nicht laufen, sie hatte uns joggen lassen und war, sobald jemand langsamer wurde, mit Trillerpfeife neben derjenigen gerannt und hatte nicht aufgehört zu pfeifen, bis diejenige weiterrannte.
Und anschließend schickte sie uns sogleich in den Gewicht-Raum, der vollgestopft war mit Hanteln, Leg-extensions, Leg-press-machines, Laufbändern und anderen Fitnessgeräten.
Völlig entkräftet schleiften wir uns schließlich und endlich in die riesige Mensa, mit den hohen Fenstern, die viel Sonnenlicht hereinließen. An den breiten, hölzernen Tischen saßen bereits Gruppen von Schüler und die Schlange zur Essensausgabe war lang. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie bis durch die gläserne Tür ins große Foyer reichte. So dauerte es eine ganze Weile, bis ich in der Mensa angelangt war. Noemi und Laura hatten es irgendwie geschafft vor mir zur Mensa und zu den Tischen zu gelangen, von denen aus sie mir fröhlich zuwinkten. Nicht unweit von ihrem Tisch sah ich drei Jugendliche sitzen, die aussahen, als gehörten sie den oberen Klassen an. Die beiden Jungen hatten breite Schultern und muskulöse Oberarme. Sie sahen aus, als gehörten sie der Footballmannschaft an. Nur ihre Gesichter passten nicht ganz zu ihrem guten Körperbau. Der eine Junge hatte strohblondes, krauses Haar und sein Gesicht war mit kleinen, rosa Pickeln übersäht. Zudem hatte er eine große, krumme Nase, die aus seinem Gesicht hervorragte wie ein steiniger, zackiger Berg.
Der zweite Junge hatte pechschwarzes Haar, das ihm in dünnen, fettigen Strähnen herabfiel und obwohl sein Gesicht keine Pickel hatte, die es verunstalteten, zogen sich viele, lange Narben über beide Wangen und Nase.
Seine Nase war ungewöhnlich klein, schmal und zart, was im ziemlichen Gegensatz zu seinem breiten Körperbau stand.
Das Mädchen passte nicht ganz zu den beiden „Footballern“. Sie war klein, hatte schmale Schultern und ihre schlanken Beine steckten in einer schwarzen Leggins, die ihre Hüften sehr vorteilhaft betonte, obwohl es da nicht sehr viel Vorteilhaftes zu geben schien. Ihre Arme waren dünn, ihre Ellbogen eckig und sie hatte ein schmales spitzes Kinn. Alle drei trugen schwarze Klamotten und strahlten etwas Bedrohliches aus. Ich schüttelte den Kopf. Wieder einmal bildete ich mir was ein, meine Fantasie ging mit mir durch.
Bei der Essensausgabe angekommen stand ich vor dem nicht allzu verlockenden Angebot: verbrannte Mac ’n Cheese oder aufgeweichte Burger, die zu viel Soße abbekommen hatten. Widerwillig wählte ich die verbrannten Mac ‘n Cheese, nahm mir noch eine große Portion Dosenfrüchte und machte mich auf zum Tisch von Noemi und Laura. Von Kane und Noah weit und breit keine Spur. „Ich bin überrascht, dass dieser Tisch noch frei gewesen ist.“, murmelte ich und spießte eine verkrustete Makkaroni mit meiner Plastikgabel auf. „War er nicht.“
Noemi grinste und Laura fügte kichernd hinzu: „Wir haben die beiden Seniors vertrieben.“ Ich blickte sie vollkommen fassungslos an. „Wie um alles in der Welt habt ihr es mit zwei Seniors aufgenommen?“ Noemi grinste, biss in ihren Burger und erklärte schmatzend: „Wir haben uns einfach neben die gesetzt und geplaudert, da sind sie von ganz allein abgezogen.“
Ich schluckte. Die Vorstellung, dass Rachel und ich uns einfach neben zwei Riesen setzen und plaudern würden, schien mir unmöglich. Noch dazu Zwölftklässler! Ich schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, ihr wart schon immer so drauf.“
„Oh, du kannst dich noch auf einiges gefasst machen.“ Noemi zwinkerte mir zu und Laura schmunzelte.
Das musste ich tatsächlich, denn kaum hatten wir aufgegessen, stürzten sich fünf Schüler aus der Zehnten auf unseren Tisch und vertrieben uns, ehe wir unsere Rucksäcke richtig zusammengepackt hatten. Den Rest der Pause erkundeten wir also das ganze Gelände – vom Basketballplatz, auf dem wir Noah antrafen, der mit ein paar anderen Jungen eine Runde spielte, über den Footballplatz, auf dem Kane und ein anderer Junge sich den Ball zuwarfen, bis zur Schwimmhalle mit den vielen Glasfenstern, die leider geschlossen war. Schließlich setzten wir uns unter eine Gruppe von Tannen und plauderten, wobei hauptsächlich Noemi und Laura redeten, während ich zuhörte.
Rachel sah ich während der Pause nicht.
Anschließend hatte ich Englisch und ich freute mich sehr Noah zu entdecken, der ein paar Tisch hinter mir saß. Neben ihm saß ein farbiger Junge mit krausen Locken, der sich ständig etwas notierte.
Unser Lehrer kam herein. Mr. Birmingham war ein großer schlanker Mann mit ebenso krausen Locken wie der Sitznachbar von Noah, und wie sich herausstellte, war er der Onkel des Jungen. Ich musste schmunzeln, als er ein paar lustige Bemerkungen darüber machte. Wie es wohl wäre, wenn mein Onkel mich unterrichten würde?
Mr. Birmingham begann uns zu Beginn der Stunde ein wenig über sich zu erzählen und fragte anschließend uns, wie wir hießen und was unsere Hobbies seien. Als wir damit fertig waren, sagte er: „Und jetzt möchte ich euch etwas bitten: Stellt euch einmal die Frage, was ihr der Welt hinterlassen wollt. Soll es etwas geben, für das ihr nach eurem Tod noch bekannt seid? Eine Erfindung oder ein Buch? Was soll an euch erinnern? Welche Spuren wollt ihr ziehen?“
Er machte eine Pause, schrieb etwas an die Tafel und fuhr dann fort: „Schreibt bitte auf, was an euch erinnern soll. Oder vielleicht wollt ihr auch, dass nichts von euch bleibt. Das ist natürlich auch in Ordnung.“ Er setzte eine tragische Miene auf. Die Schüler lachten. Mr. Birmingham schlug die Hände zusammen.
„Also, fangt an zu schreiben.“
Raschelnd holten wir unsere Blöcke und Stifte hervor und beugten uns konzentriert über unsere noch weißen Blätter.
Mr. Birmingham fügte noch hinzu: „Schön wäre es, wenn ihr euch einen Spruch oder ein passendes Zitat dazuschreibt.“
Ein Schüler hob die Hand. „Kann der Spruch ausgedacht sein?“ Unser Lehrer nickte. „Klar.“ Nachdenklich kaute ich auf meinem Bleistift herum bis ich schließlich anfing zu schreiben.
„Was soll die Welt an uns erinnern, wenn unsere Gräber bereits gesetzt und unsere Körper unter der Erde sind? Woher wissen wir, dass die Welt sich an uns erinnern wird, wenn wir bereits gestorben sind? Weiß überhaupt jemand, dass man sich später an ihn erinnern wird – sei es in der Politik, im Sport oder in der Historie?
Ich habe mir zuvor nie darüber Gedanken gemacht, aber wenn ich etwas tun könnte, von dem ich wüsste, dass die Welt mich dadurch nie vergessen wird, dann würde ich meine Geschichte aufschreiben. Ich würde ein Tagebuch führen, oder Bücher schreiben, in denen Personen, meine Geschichte erleben. Und am Ende meines Lebens würde ich jemanden bitten dieses Buch zu drucken.
Alles, was wir bisher wissen, ist uns durch Abschriften, Briefe, Bücher erhalten geblieben. Durch Menschen, die geschrieben haben. Und weil uns dadurch Erinnerungen bleiben, möchte ich ebenfalls schreiben. Ich möchte Erinnerungen festhalten durch die Schrift.
Ich glaube, dass, selbst wenn die Menschen sterben, die Schriften erhalten bleiben werden. Nehmen wir die Bibel oder die darin enthaltene Thora. Diese Schriften sind so alt und doch sind sie erhalten geblieben.
Ich denke, dass es am Ende auf Gott hinausläuft. Er bestimmt, was erhalten bleibt und was nicht. Er hat die Schriften der Bibel bewahrt, sodass sie bis ins heutige Zeitalter erhalten geblieben sind – und wenn er will, dass sich Menschen nach meinem Tod an mich erinnern, dann wird er dafür Sorgen, dass meine Geschichten oder Tagebücher erhalten bleiben.“
Nachdenklich verließ ich die Englischstunde, um mich zum letzten Fach, dem Schreibkurs, aufzumachen. Schweigsam setzte ich mich auf meinen Platz und bemerkte kaum, dass Rachel sich neben mich setzte.
Was würde von mir übrig bleiben?