5. Kapitel: Die Fahrt nach Hause

5. Kapitel: Die Fahrt nach Hause

21. Juni 2023 Allgemein 0

Rachel verabschiedete sich von mir bereits am Schulgebäudeeingang, denn sie musste zu einem Arzttermin, der genau in der entgegengesetzten Richtung stattfinden würde und ihre Mutter würde sie abholen.
Noemi und Laura waren mit ihren Fahrrädern gekommen, da sie in der Häusersiedlung ein paar Straßen weiter wohnten. Und so schritt ich am Basketball- und Footballplatz vorbei, überquerte den Schulhof und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle, die sich nicht unweit von der Schule befand.
Am Rande des breiten Fußweges wuchsen hohe Platanen und Eichen. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich ein paar alte Villen und Doppelhaushälften und dahinter sah man bereits die Felder und Wälder. Mein Zuhause war aber weiter weg, denn das Dorf war etwa siebzehn Kilometer entfernt. Natürlich wäre es mir auch möglich immer der Ranch-Street zu folgen, denn die war die Straße, die direkt ins Dorf führte.
Der Weg war im Grunde ganz simpel. Von meinem Zuhause aus, musste man einfach für zehn Kilometer der Ranch-Street folgen und anschließend die restlichen sieben Kilometer auf der Green-Street, die zur Schule führte und noch weiterführte.
Ich war diesen Weg in den letzten Wochen oft mit dem Fahrrad gefahren, da Mom gemeint hatte – wenn es Probleme mit dem Bus gäbe oder irgendetwas los sei -, dass es gut wäre, wenn ich diesen Weg in- und auswendig könne.
Jedoch würden die Busse auf mich warten. So eilte ich auf den Parkplatz hinter dem Schulgebäude, wo die vielen gelben Busse standen, und die Schüler warteten. Bus Nummer 7 fuhr mich nach Hause und so wartete ich mit den anderen Schülern, die allerdings nach kurzer Zeit in ihre Busse stiegen. Überrascht stellte ich fest, dass Bus Nummer 7 nicht zu sehen war. Und dann fuhren die Busse auch schon los. Verwirrt und besorgt stand ich da bis mich ein vorbeilaufender Lehrer fragte: “Hast du deinen Bus verpasst?”
“Mein Bus ist gar nicht gekommen.”, erklärte ich. “Welchen Bus nimmst du denn sonst?”, fragte er. “Bus Nummer 7”, erwiderte ich.
“Der fährt heute nicht.”, meinte er nur. “Wie bitte?” Ich war entsetzt. Das hieß, dass ich hier feststeckte.
In diesem Moment kam Noah die Stufen vom Schulgebäude heruntergelaufen und sah mich. “Hey, Jill!”, rief er freundlich. “Was machst du denn hier?”
“Mein Bus ist nicht gekommen.”
“Das wurde aber angesagt, Mädchen.”, meinte der Lehrer tadelnd und ging weiter. “Meine Mom kann dich hinfahren.”, bot Noah an und ich sah ihn überrascht an. “Echt?”
“Klar, sag ihr nur wohin du willst.”, sagte er und rettete mir damit den Tag.

Seine Mom kam fünf Minuten später. Sie war eine freundliche, schlanke, großgewachsene Frau namens Jolene mit kurzen, honigblonden Locken und strahlenden, braunen Augen. Sie umarmte und begrüßte mich so herzlich, als sei ich ein verlorengeglaubtes Familienmitglied, und freute sich umso mehr, als ich ihr erzählte, dass ich in der Farmer-Siedlung wohnte.
„Wie schön. Ich liebe die Felder und Wälder.“, sagte sie mit leichtem New-Yorkese. „Wir machen öfters Ausflüge zur River-Lichtung.“ Ich nickte erfreut.
Ich kannte die Lichtung und war dort schon oft mit Layton und Beth gewesen.
“Ich spiele übrigens Geige.”, erwähnte ich, um einer peinlichen Stille auszuweichen, die sich anbahnte. “Wie toll.” Noah schien beeindruckt. Er selbst spielte E-Bass und Schlagzeug.
“Das ist aber auch ziemlich musikalisch.”, meinte ich bewundernd.
“In meiner Familie spielt jeder ein Instrument.”, erklärte er.
“Ne, in meiner nicht. Nur mein Dad und ich. Jack hört lieber Musik als das er welche spielt und Beth ist nicht sehr musikalisch, obwohl wir gemeinsam als Familie viel singen.”
„Ach ja, Mom“, wandte sich Noah an seine Mutter. „Mr. Nolan, unser neuer Klassenlehrer, hat uns ganz viele Formulare mitgegeben für die Kennenlernfahrt und für die Kurse, die wir belegen wollen.“
Jolene lächelte in den Rückspiegel. „Das klingt ja super. Sicherlich hast du dich für den Schauspielkurs eingetragen, was?“
Noah wölbte stolz seine Brust und nickte fest. „Ich muss mein Talent doch immer wieder unter Beweis stellen. Außerdem nützen mir ein paar extra Stunden ziemlich.“
Diese Sätze erinnerten mich an das, was er auf seinen Steckbrief geschrieben hatte. „Du hast als Hobby aufgeschrieben, dass du gerne schauspielerst?“, hakte ich sogleich nach.
Er nickte lächelnd. „Eigentlich ist es mehr als ein Hobby.“, erzählte er nicht ohne Stolz. „Ich möchte mal in Filmen spielen.“
Überrascht und ein wenig zweifeld blickte ich ihn an. „Echt? Und welche Rollen willst du spielen? Superhelden?“
Er nickte mit leuchtenden Augen. “Ja, mein Traum ist es mal ein Superheld aus Marvel oder DC zu spielen. So jemanden wie Spiderman oder Flash. Dafür werden auch jüngere Schauspieler gecastet.”, erzählte er.
Ich machte ein zweifelndes Gesicht. “Wenn du das denn schaffst. Solche Rollen sind beliebt und du bist ja nicht der einzige Schauspieler auf der Welt.”
“Mag sein, aber ich werde mich anstrengen. Mom hat mich für dieses Jahr in einem Schauspielkurs angemeldet. Jeden Dienstag-, Donnerstag- und Freitagabend, drei Stunden lang, stimmt’s, Mom?”
Jolene nickte. “Ja, aber wir werden sehen, ob das das ist, was du auf lange Sicht willst. Wie gesagt, hast du obendrein auch noch Schlagzeug- und E-Bass-Unterricht. Das könnte voll werden.”
“Naja, der E-Bass-Unterricht ist immer montags und dienstags und der Schlagzeug-Unterricht ist zwar auch freitags, allerdings zwei Stunden vorher.”, hielt Noah dagegen.
“Ja, und zwei Stunden lang. Das heißt, ich bringe dich dann vom Schlagzeug-Unterricht sofort zu drei Stunden Schauspiel-Unterricht. Außerdem haben wir freitags immer unseren Familienabend.”, erwiderte Jolene trocken.
“Aber Mom, wir sind um 9 pm wieder zuhause, also bleiben noch zwei Stunden Zeit.”, fand Noah und klang flehentlich.

Bereits nach zwanzig Minuten hielt das Auto auf der Wiese vor dem Farmhaus.
Jolene hupte einmal, um auf sich aufmerksam zu machen. Wolken wichen einem blauen Himmel und strahlender Sonne. Noah sprang aus dem Auto, stand mit offenem Mund da und sah sich die Felder, Hügel, die Zäune, Äcker und die mehreren Häuser an. Auf seinem Gesicht lag das bloße Staunen und sein offener Mund schloss sich zu einem schwärmerischen Lächeln. „Das ist… wunderschön.“
Ich grinste zufrieden. „Find ich auch.“
Die Tür des Hauses öffnete sich und Mama, Layton, Beth und Veronica kamen herausgelaufen, hinter ihnen platzte Montana aus dem Haus und stürmte auf Noah und mich zu. „Aw, ihr habt einen Hund?“, rief er voller Begeisterung.
„Keine Sorge.“, sagte ich schnell, da ich oft erlebt hatte, dass manche Kinder unruhig wurden, wenn Montana ihnen so enthusiastisch entgegenrannte. „Er beißt nicht.“
Noah winkte ab. „Ich kenne mich mit Hunden aus. Hab selbst einen, schon vergessen?“
Stimmt! Mir fiel sein Terrier Lucky ein, den er erwähnt hatte. Montana begrüßte Noah wie einen totgeglaubten Freund, während meine Geschwister mich begrüßten, als sei ich jahrelang totgeglaubt gewesen. „Du musst unbedingt mit zum See kommen. Dort blühen jetzt die Apfelbäume und an manchen hängen schon große, rote Äpfel.“, berichtete Veronica begeistert und zupfte mich am Ärmel.
Layton drückte mich kurz und pfiff Montana zurück. Er gehorchte aufs Wort.
Noah blickte dem Hund enttäuscht hinterher. Dann wandte er sich an Layton.
„Ich hab keine Angst vor Hunden.“, sagte er wissend und streckte meinem großen Bruder die Hand entgegen. „Hi, ich bin Noah.“
Layton schlug ein und nickte Noah zu, wie ein Cowboy einem kleinen Greenhorn. „Layton.“, stellte er sich vor und wirkte mit seiner Kuhlederweste, den Stiefeln, der Jeans und dem breitkrempigen Hut wirklich wie ein echter Cowboy.
Beth mit ihrer mütterlichen Art umarmte Noah innig und stellte sich freundlich vor. Mom, die sich inzwischen mit Jolene bekannt gemacht hatte, konnte sich nun durchdrängen zu mir und umarmte mich mit dem Satz: „Ist das nicht nett von Jolene, dass sie dich hergebracht hat?“
Ich nickte eifrig und schlang meine Arme fest um Moms Rücken. Dann drehte ich mich Noah zu und sagte lobend: „Aber ohne ihn, wäre ich jetzt nicht hier. Er hat mich informiert, dass der Bus ausfällt, und er hat seine Mom angerufen, dass sie mich herbringt.“ Noah lächelte schüchtern, was ihn umso netter wirken ließ.
Mom bedankte sich bei ihm und Jolene. „Möchten Sie noch einen Kaffee, Mrs. County?“, fragte meine Mutter freundlich.
Jolene winkte ab. „Ach, wir wollten eigentlich gleich wieder fahren, ich habe noch…“
„Nein, bitte, Mom!“, unterbrach Noah sie flehend und blickte zu mir rüber. „Ich hab mir die Farm und die Umgebung noch gar nicht angesehen. Ich würde gerne noch länger hier bleiben…“ Er zögerte kurz und fügte hinzu: „Wenn das in Ordnung geht.“
Wir Geschwister waren begeistert. „Natürlich!“, rief Layton. „Wir zeigen dir alles.“, beschloss Beth und ich fügte freudestrahlend hinzu: „Wir können gemeinsam ausreiten.“
Jolene zögerte mit einem fragenden Blick auf Mom, die lächelte und sagte: „Natürlich kann Noah hierbleiben. Sie können ihn einfach nach dem Abendessen wieder abholen.“ Jolene sah Noah an, der sie flehentlich anblickte und nickte dann, worauf wir Kinder in ungestümen Jubel ausbrachen und Layton uns sofort zum Haus dirigierte. Lachend blickten Mom und Jolene uns hinterher.

Nach einer halben Stunde hatten wir Noah das ganze Grundstück gezeigt hatten, hielten wir vor dem Reitstall. Neugierig folgte mir Noah in den Stall hinein und staunte, als er die hohen, dunklen Boxen, die hölzernen Balken und die schönen, großen Pferde sah, die ihre Hälse über die Boxentüren hängen ließen.
Vorsichtig streckte er die Hand nach der weißen Schnauze von Spirit aus, dem hellbraunen Mustang, der das Lieblingspferd meines Vaters war.
„Wie heißt er?“, fragte Noah und streichelte Spirit sanft zwischen den Nüstern.
Ich lächelte. „Spirit.“
„Wie der Hengst aus dem Film ‚Spirit‘?“, fragte er lächelnd und ich bejahte.
Eben deshalb hatte ich ihn so genannt. Unser Spirit glich in seiner ungestümen, freiheitsliebenden Art sehr dem jungen Hengst aus dem Dreamworks-Film. Nachdem wir den Film gesehen hatten, hatte ich Spirit seinen Namen gegeben. Vorher hatten Dad und Layton ihn immer nur Brauner genannt. Wie einfallsreich. Da kam mir ein Gedanke.
„Hey, hast du Lust auf Spirit zu reiten?“, fragte ich und Noah blickte mich überrascht, aber doch unsicher an. „Darf ich das denn?“
„Klar.“, nickte ich. Dad und Mom hatten früher etwas dagegen gehabt, wenn ich auf Spirit geritten war, und auch heute sahen sie es nicht gern, aber immerhin erlaubten sie es mir.
„Ist er nicht zu groß für uns?“, fragte Noah immer noch unsicher.
„Wird schon gehen.“, meinte ich vergnügt und öffnete die Boxentür. Selbstsicher hängte ich Spirit den Halfter über und führte ihn aus der Box. Dann schnallte ich ihm den Sattel um und holte zwei Reithelme. „Hier.“ Ich drückte Noah den einen in die Hand. Immer noch etwas zögerlich setzte er ihn sich auf. Dann schwang ich mich auf Spirits Rücken und reichte Noah meine Hand. Zögernd blickte er zu mir hoch. Ich grinste. „Komm schon. Das macht Spaß. Und wir tun hier nichts verbotenes.“
„Okay.“ Noah atmete einmal ein und aus. Dann schwang er sich auf Spirits Rücken und hielt sich an mir fest. Gemeinsam ritten wir hinaus aus dem Stall. Ich lenkte Spirit über die Wiesen auf die Hügel zu und er steigerte sein Tempo vom Trab in den Galopp. Noah hielt seine Arme fest um meinen Körper geschlungen.
„Das ist abgefahren!“, jubelte er, als Spirit über einen umgefallenen Baum sprang und weiter hinaus galoppierte, vorbei an den Schafen auf der Weide und vorbei an den ansteigenden Hügeln. Die Sonne strahlte auf uns herab und Spirit wieherte ausgelassen. Ich lenkte ihn an einigen Hügeln vorbei und dann verlangsamte er sein Tempo wieder, bis wir nur noch im Trab ritten.
Nachdem wir den dritten Hügel passiert hatten und auf die Schotterstraße trafen, hielt ich Spirit in einer kleinen Senke hinter den Wiesen.
Die Farm war nur noch ein kleiner, roter Fleck in weiter Ferne.
„Wohin willst du denn?“, fragte ich an Noah gewandt.
Er zuckte mit den Schultern. „Was gibt es hier denn zu sehen?“
Ich lächelte ihn über die Schulter an. „Vieles. Wir können auf die windy hills reiten. Von dort aus, kann man kilometerweit sehen. Oder wir reiten hinunter zum Redwood Lake. Dort gibt es eine Insel, die man mit dem Kanu erreichen kann und man hat eine sehr schöne Aussicht.“, erzählte ich ihm. Begeistert wählte Noah die windy hills und ich schlug den Weg zu ihnen ein.
Es war nicht mehr weit bis dahin und Spirit erklomm furchtlos die steilen Hügel. Oben angekommen, stiegen wir ab, ließen ihn grasen und setzten uns ins Gras. Auf der anderen Seite fiel der Hügel nicht so steil ab und man konnte leichter hinunterlaufen. Mit zufriedenem Blick schaute ich auf die Felder, Äcker und Wiesen und zu unserer Farm hinüber. Ich war froh hier zu leben.
Vielleicht würde ich für immer hierbleiben. Ich sehnte mich nicht nach etwas anderem. Hier hatte ich alles, was ich brauchte.
Nach langem Schweigen erzählte ich ihm meine Gedanken.
Er nickte lächelnd. „Leider lebe ich in der Stadt, aber ich würde gerne öfter hierherkommen. Ich liebe das Landleben. Hier ist man so frei und ohne jeden Zeitdruck. Wie in einer anderen Welt.“
Ich lächelte zurück. „Du kannst gerne öfter kommen.“
Wir schwiegen und blickten über die endlos weiten Felder, während die Sonne sich langsam auf den Weg nach unten machte. Noah schaute zu mir, während der Wind seine dunklen Haare zerzauste und die Sonne sich seitlich in seinen braunen Augen widerspiegelte. Wir lächelten uns an und wandten uns wieder den Feldern zu. Und das war der Beginn unserer Freundschaft.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert