7. Kapitel: Die „kleine“ Ralley
Kurze Zeit später standen wir mit unseren Rucksäcken auf dem Rücken auf dem Platz vor dem Landhaus. Mr. Nolan teilte Aufgabenblätter aus und der Park-Ranger erklärte uns, dass wir sogleich eine kleine Tour rund um Blackbird Lake machen würden. Anschließend, so sagte Mr. Nolan, würden wir eine „kleine“ Ralley veranstalten, die uns etwa zwei Stunden kosten würde und dann gab es verschiedene Workshops.
Ein entnervtes Stöhnen und Raunen ging durch die Reihen. Aber ich war ganz aufgeregt. Die Gegend hier erkunden, eine Ralley machen und wer wusste, was es alles für Workshops geben würde? Begeistert rempelte ich Noah an, der mir ebenso freudig zu grinste.
Der Ranger klatschte in die Hände, hatte unsere Aufmerksamkeit und begann sogleich von den verschiedenen Tieren zu erzählen, die hier lebten. Dabei liefen wir los, rechts am Haus vorbei, in den weiten, tiefen Wald. Hohe, knorrige, dichtbewachsene Eichen, Eschen und Tannen, moosbewachsene Steine, wurzel- und moosübersähter Boden, Wurzelstränge und Dickicht breiteten sich um uns herum aus und sogar ein kleiner Bach schlängelte sich zwischen einigen Steinen vorbei. „Dieser Bach führt direkt in den Blackbird Lake.“, erzählte der Ranger.
Er führte uns durch den Wald, zeigte uns die verschiedensten Pflanzen und Bäume, erklärte uns den Lebensraum der Grizzlys, Biber und anderen Tiere.
Einmal kamen wir an einer blühenden Brombeerhecke vorbei, durchquerten ein paar Gebüsche und auf einer kleinen grasbewachsenen Lichtung machten wir im Schatten der Bäume halt, setzten uns ins Gras, aßen die Lunchpakete, die wir gleich nach der Ankunft aus der Kantine bekommen hatten.
Während wir aßen, erzählte der Ranger uns, was für Erlebnisse er schon mit den Tieren hier gehabt hatte. „Den Tieren des Waldes bin ich vertraut. Einige Eichhörnchen folgen mir auch, wenn ich den Wald durchstreife. Nachts begegne ich ab und zu sogar Wildschweinen. Und hier in der Nähe leben auch Grizzlys.“
Einige Klassenkameraden sahen sich unruhig um, wohingegen ich ganz aufgeregt war. „Glauben Sie, wir treffen auch mal auf einen Grizzly?“, rief ich fast ein wenig zu begeistert, was meine Mitschüler in noch größere Unruhe versetzte. Der Ranger schüttelte den Kopf und winkte ab. „Das will ich nicht hoffen. Grizzlys sehen zwar plump und langsam aus, können aber bis zu 34 miles/h schnell rennen. Und auf Bäume klettern können sie auch, was ihnen allerdings schwerfällt. Wenn ihr also einem Grizzly begegnet, hilft kein Wegrennen.“ Er blickte in die unruhigen Gesichter, während Noah und ich mit leuchtenden Augen jedes Wort in uns aufsaugten. „Was glaubt ihr, hilft, wenn man einem Grizzly begegnet? Was sollte man tun?“ Niemand meldete sich. Schweigen erfüllte den Wald, man hörte nur einige Vögel singen.
Schließlich sagte der Ranger: „Tatsächlich sollt ihr ruhig stehen bleiben und mit dem Bären reden. Nicht schreien, nicht weglaufen, aber redet laut mit ihm und gestikulieren. Und keine Sorge, wenn der Bär sich aufrichtet. Das ist kein aggressives Verhalten, er verschafft sich nur Überblick über die Situation. Versucht nicht den Bären anzuschreien oder durch heftige Bewegungen einzuschüchtern, das macht ihn nur aggressiv.“
Laura meldete sich zaghaft und fragte eingeschüchtert: „Und wenn der Bär dennoch aggressiv wird? Soll ich dann wegrennen?“
Der Ranger schüttelte den Kopf. „Ich zeig es euch. Ihr müsst euch so hinlegen.“ Er legte sich auf den Bauch auf den Boden, kreuzte die Arme im Nacken und blieb so liegen. Niemand kicherte, alle schauten sich die Haltung gut an, einige machten es sogar nach. Denn hier merkten wir plötzlich, dass so eine Begegnung mit einem Bären doch nicht so unwahrscheinlich war.
Der Ranger forderte uns alle noch mal auf diese Pose zu machen, damit wir es uns besser einprägen könnten. Schließlich standen wir auf, packten unsere Sachen zusammen und folgten ihm durch den Wald zurück zum Landhaus, das direkt am Ufer des Blackbird Lake stand. Am Ostufer des Sees befanden sich auch ein kleines Kanu-Haus und auch Anglerutensilien.
Beim Landhaus wieder angekommen, teilte Mr. Nolan Blätter aus, auf denen die verschiedensten Aufgaben standen und erklärte, dass hier im Wald einige Karten verteilt waren, auf denen Aufgaben standen, die uns letztlich zum Ziel der Ralley führen würden. Was das Ziel war, verriet Mr. Nolan nicht.
Zu Beginn wurden wir in Gruppen unterteilt. Ich kam glücklicherweise mit Noah, Laura und Lars in eine Gruppe. Lars war mir tatsächlich sympathischer als ich gedacht hatte. Er war ein abenteuerlustiger, humoristischer, rothaariger Junge mit kleinen Sommersprossen auf den Wangen und wachen, blauen Augen.
Und wie es sich herausstellte, hatte er einen guten Spürsinn. Nachdem uns das erste Rätsel zum Anglerhaus am See geführt hatte, fanden wir dort ein Kärtchen, auf dem folgende Botschaft stand:
„Wer suchet, der findet. Doch, wenn es verschwindet?
Aus Wolle und Faden, ins Auge es nicht sticht,
und man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
Zielstrebig ging Lars voraus in den Wald und entdeckte bereits auf den ersten Blick einen grünen Wollfaden, der von einem Ast hing. Diesen übersahen wir alle, nur Lars nicht. Und wenige Sekunden darauf, entdeckte er den nächsten und den übernächsten Wollfaden. Mit scharfen Augen führte er uns den Pfad entlang, den uns die Wollfäden wiesen. Doch keiner von uns sah sie auf den ersten Blick, nur Lars und so folgten wir ihm blindlinks.
Und so ging es weiter. Wir hatten auch eine Landkarte mitbekommen, die Blackbird Butte, den See und die Umgebung zeigte und darin waren die Punkte markiert, die wir erreichen sollten. So führte uns die Ralley zur Lichtung, durch eine Waldmeisterhecke, über eine breite Wiese, an einem steinigen Bach vorbei, um den See herum und zu einem Lagerfeuerplatz am Westufer des Sees.
Als wir dort ankamen, fanden wir das letzte Kärtchen.
„Bleibt hier, bis alle anderen da sind.“, las Noah vor und wir gaben uns einen triumphierenden Handschlag, weil wir als erste die Schnitzeljagd beendet hatten. Um den mit Steinen umlegten Lagerfeuerplatz standen einige niedrige Baumstümpfe, auf die wir uns setzten. Von dem Ranger und Mr. Nolan keine Spur. Also begann Lars zu erzählen, von dem Haus in Schweden, von den Urlauben dort, von den tiefen Wäldern, den vielen Inseln, den typisch rot-weißen Holzhäusern, den Bären und Elchen und Kreuzottern. Er beschrieb die märchenhaften Tannenwälder, die moosbedeckten Steine, zwischen denen sich Bäche entlangschlängelten und erzählte von den leckeren Zimtschnecken, dem Softbröd, ein schwedisches Fladenbrot, den Felsenstränden und wie er und seine Geschwister von fünf Meter hohen Klippen gesprungen waren.
Ganz gebannt hörten wir zu und Lars berichtete uns, dass er diesen Sommer auf Hawaii surfen gewesen war. „Durch mehrere Tubes bin ich gesurft. Das war echt abgefahren.“, erzählte er begeistert.
Nachdem Lars geendet hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte uns nacheinander auffordernd an. „So! Jetzt erzählt ihr mal!“
Laura streckte sich und blinzelte langsam.
Nach einigem Zögern überwand sie ihre Zurückhaltung und erzählte: „Also, meine Familie ist eine ziemliche Buisness-Familie. Mein Vater ist Chef einer großen Marketing-Firma in Washington. Meine Mutter hat kürzlich ihre Arbeit als Tutorin an der Howard-University unterbrochen und ist gerade Vollzeit-Hausfrau, da meine kleinen Zwillingsbrüder die letzte Nanny in die Finger gebissen haben, bis sie geblutet hat.“
Ich riss überrascht die Augen auf, während Noah und Lars lachen mussten.
„Wie alt sind denn deine Brüder?“, fragte Noah kichernd.
Laura lächelte. „Die Zwillinge sind beide vier Jahre und mein großer Bruder, der an der Howardstudiert, ist 23 Jahre alt. Mom hat den Zwillingen schon vier Mal eine Nanny besorgt und beim vierten Mal ist ihr der Kragen geplatzt. Aber…“ Sie grinste schelmisch. „Niemand aus unserer Familie mochte die Nannys. Mom kam erst spät nach Hause und die Nanny hat uns allen Mittag essen gekocht und den Haushalt gemacht. Also, alle vier haben das echt gut und zuverlässig gemacht, aber sie waren alle so unfreundlich und ekelig. Haben uns immer, immer wieder Gemüse-Eintopf vorgesetzt, als wären wir Kaninchen. Immer nur Gemüse-Eintopf oder Kartoffeln, nie Fast-Food. Und das einzige was die getan haben, war, aufzupassen, dass wir uns nicht die Köpfe einschlagen. Ansonsten haben sie uns alleingelassen. Und da haben Edward und Digory…“
„Digory?“, unterbrach Lars sie erstaunt. „So heißt dein kleiner Zwillingsbruder?“
„Ja.“ Laura lächelte verlegen. „Alter Name, ich weiß.“
„Erzähl weiter.“, forderte ich sie interessiert auf.
„Also, Edward und Digory wurde es zu viel und sie haben die erste Nanny mit Lego-Steinen beworfen, geschrien und geweint was das Zeug hielt und ihr Murmeln in den Weg geräumt, bis sie schließlich auf diesen ausrutschte und eine Platzwunde auf dem Hinterkopf bekam, die genäht werden musste. Danach kündigte sie.“
„Autsch.“ Noah verzog schmerzverzerrt das Gesicht und Lars grinste mitleidig.
Laura fuhr fort: „Der zweiten haben sie flüssigen Kleber in die Schuhe getan und ihre Jacke vollgekotzt.“
„Das ist ja widerlich.“, rief ich angeekelt und musste doch lachen über die schrägen Einfälle der Zwillinge.
Lächelnd fuhr sie fort. „Und dann haben sie den Zwillingsstreich ausprobiert. Wenn Digory in der Wanne war, ist er rausgeklettert, nackig durchs Haus gerannt, hat dabei Wasser überall verteilt und sich dann versteckt und Edward hat sich mit Klamotten in die Wanne gesetzt. Die Nanny war vollkommen verwirrt, hat Edward die Klamotten ebenfalls ausgezogen, ihn gebadet und dann schaute Digory wieder zur Tür herein.“ Wir mussten lachen. Das klang echt nach einem gelungenen Zwillingsstreich.
Laura schmunzelte und fuhr fort: „Und diesen Streich haben sie mehrmals gemacht, bis die dritte Nanny gekündigt hat.“
Sie machte eine kurze Pause und erzählte dann weiter: „Bei der letzten haben Edward und Digory Schuhcreme und Seife in den Eintopf gepackt, sodass wir alle krank wurden. Sie selbst haben davon auch gegessen und mussten sich übergeben. Da hat Mom die Nanny entlassen und schmeißt nun selbst den Haushalt.“
Noah lächelte belustigt. „Oh man, da habt ihr ja echt viel erlebt mit euren Nannys.“
Unsere Freundin nickte schmunzelnd. „Das kannst du laut sagen.“
Dann blickte sie Noah auffordernd an. „Jetzt erzähl du mal. Wie sieht es mit deiner Familie aus?“
Noah blies seine Wangen auf, lies die Luft wieder raus und schlug seine Hände auf die Schenkel. „Also, ich habe zwei Schwestern, einen Bruder und einen Terrier. Meine Mom ist Anwältin und mein Dad Chirurg. Meistens sind meine Schwester Holly und mein Bruder Robin für den Haushalt zuständig. Aber jeden zweiten Tag kommt unsere Haushaltshilfe, die für uns alle möglichen Haushaltsdinge verrichtet und Essen kocht. Übrigens sehr, sehr gutes Essen. Sie heißt Aurelia. Mom und Dad sind früh morgens schon weg und kommen erst am Abend gegen 9 pm wieder. Daher machen wir uns selbst jeden Abend unser Schulbrot und derjenige, der als erster zuhause ist, kocht Abendessen. Außer, wenn Aurelia da ist. Und Aurelia ist wirklich klasse, sag ich euch. Sie ist ein richtiges Mathegenie und total geduldig und hilfsbereit. Sogar Holly fragt Aurelia, wenn sie Hilfe braucht.“
„Wie sieht Aurelia denn aus?“, fragte ich neugierig und versuchte ihr Aussehen zu erahnen, doch Noah zerstörte alle Vorstellungen, indem er berichtete: „Sie ist schlank und klein, kleiner als ich und hat lange, schwarze Locken. Ihre Eltern stammen aus Peru, sie ist aber in Kenia aufgewachsen und als Jugendliche in die Vereinigten Staaten gezogen. Sie spricht fließend Englisch, Spanisch und Suaheli.“ „Wow!“, staunte ich. „Dann kann sie euch diese Sprachen ja beibringen.“, sagte ich im Scherz, doch Noah nickte grinsend und erwiderte: „Chochote anachofanya.“
Verwirrt blickten Lars, Laura und ich ihn an.
„War das Spanisch?“, fragte Lars verblüfft. Noah lachte. „Suaheli.“
„Cool!“, meinte ich beeindruckt. „Und deine Geschwister? Wie alt sind die?“, fragte Laura und klang nun nicht mehr so schüchtern.
„Robin ist 20 und geht aufs College, Holly ist 18 und beendet gerade die Highschool und Amanda ist 10 und geht auf die Elementary.“, zählte Noah auf.
„Deine Eltern verdienen bestimmt viel, oder?“, fragte Lars neugierig und Noah nickte. „Ja. Ist schon cool. Aber auch schade, dass sie immer weg sind. Nur spätabends kommen sie wieder. Darum haben wir den Freitag als Familienabend und deshalb” Er warf mir einen Blick zu “ist Mom sich nicht sicher, ob ich Schauspiel-Unterricht nehmen soll.”
Er zuckte mit den Schultern, sein Lächeln verschwand für einen Augenblick, aber dann strahlte er wieder.
„Dafür sind die Ferien und Wochenenden umso schöner. Wir verbringen richtig schöne Zeiten miteinander. Nur die ganze Familie und ich und entweder fliegen wir nach L.A. oder machen einen Roadtrip durchs Land.“, erzählte er begeistert und seine Augen leuchteten. „Richtige Roadtrips? Womit denn?“, fragte ich und blickte ihn an. Sein Pony hing ihm seitlich über die Stirn, seine braunen Augen strahlten Freude und Abenteuerlust aus und seine Hände waren im Schoß gefaltet. Er trug eine schwarze Jeans, die an den Enden ein wenig gekrempelt war, einen roten Pullover und seine Füße steckten in teuren, roten Nike-Schuhen mit zentimeterdicken Sohlen. Er sah richtig gut aus und mich durchfuhr ein heimelig-warmes Gefühl als ich daran dachte, dass wir Freunde waren.
Seine Augen wanderten zu mir und er lächelte. „Mit unserem Wohnmobil, das insgesamt Platz für vier zum Schlafen hat. Und den Wohnwagen, der ein Ehebett hat, hängen wir hintendran.“
„Ihr habt ein Wohnmobil mit vier Betten?“, platzte ich heraus und starrte Noah mit aufgerissenen Augen an. Er nickte stolz lächelnd. „Jap und einen Wohnwagen.“
„Das ist ja der Hammer!“, rief ich begeistert. „Können wir da mal mitfahren? Bei einem Roadtrip, meine ich?“ Noah grinste abenteuerlustig und hob die Schultern mit einer gewissen Spannung. „Wer weiß?“